Musiktheaterkritik: Auf in die Revolution
Was steckt noch in „Carmen“ jenseits der Geschichte einer verführerischen Frau? Regisseur Christian Weise sucht in seiner Inszenierung am Maxim Gorki Theater nach einem anderen Umgang mit dem Opernstoff, besetzt die beiden großen Frauenrollen mit zwei Romnja und schafft eine Beseelung auch jenseits der Karikatur.
Wer ist Carmen? Einst von Prosper Mérimée in seiner Novelle als Schreckfigur für brave Bürger erfunden, als männerfressende Femme fatale ohne Gewissen (und auch als Beispiel für eine regellose Romni), hat sie sich bei den Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy und in den hypnotisierenden Melodien Georges Bizets zu einer selbstbewussten Frau außerhalb der Gesellschaft verwandelt, die sich nimmt, was ihr taugt. Zumindest heute ist sie uns viel näher als viele anderen Figuren der Oper, in ihrem polyamourösen Freiheitsstreben und ihrer Respektlosigkeit gegenüber einer festgefügten, obrigkeitsgläubigen Umwelt.
Herausforderungen für Regisseur*innen gibt’s genug in der Geschichte von der verführerischen Frau, in die sich der Soldat José verliebt, obwohl er die sanfte Micaëla heiraten soll: Wenn José in enttäuschter Liebe Carmen am Ende ersticht, ist das ein Femizid, der vorher durch Tarotkarten eine gewisse Unausweichlichkeit bekommen hat. Micaëla wirkt trotz ihrer komplexen Arien merkwürdig passiv, während Torero Escamillo in all seiner breitbeinigen Männlichkeit gefeiert wird.
Für all das haben Opernregisseur*innen kluge Lösungen gefunden. Allerdings nicht für den Umstand, dass Carmen eine Romni ist. Meist wird der Umstand einfach unterschlagen, schließlich funktioniert die Geschichte auch ohne diesen Hinweis. Nun aber hat sich das Maxim Gorki Theater Bizets Oper auf die vergleichsweise kleine Bühne geholt, obwohl in Berlin sowohl die Deutsche Oper (in einer spannenden Inszenierung von Ole Anders Tandberg) und die Staatsoper (von Martin Kušej viel zu düster arrangiert) eine Produktion im Repertoire haben. Und zwar, um die Sache mit der Romni-Carmen zu verhandeln.