Theaterkritik: Furchtlos gegen Männergewalt
Kleist trifft Dokumentartheater: Die Vergewaltigung in Kleists „Marquise von O.“ und das Aufbegehren der Marquise gegen den Täter verschränkt Regisseurin Ildikó Gáspár am Deutschen Theater Berlin mit realen Missbrauchsfällen der jüngeren Vergangenheit. Ein Abend, der unter die Haut geht.
Ist sie tot oder nur schlafend, die nackte Frau in der Vitrine? Reglos liegt sie da, und erst, als die Kamera sie umkreist, sieht man, dass es sich um eine Puppe handelt. Genauer: um eine Nachbildung der anatomischen Venus, einer Ende des 18. Jahrhunderts in Florenz gefertigten Wachsskulptur des weiblichen Körpers. Man kann den Bauchraum öffnen und die Organe entnehmen, darunter ein kleiner Fötus.
Es gibt Männer, die Frauen so am liebsten haben: passiv, geordnet, zur Verfügung. Unter ihnen auch Typen wie Graf F. in Heinrich von Kleists Novelle „Die Marquise von O.“, veröffentlicht 1808. Am Deutschen Theater Berlin haben Regisseurin Ildikó Gáspár und ihr Team dem Titel noch ein „und –“ hinzugefügt. Dahinter verbirgt sich das Unaussprechliche: Der russische Graf vergewaltigt im Schlachtchaos die ohnmächtige Marquise Julietta. Wovon die Welt nur erfährt, weil sie schwanger wird und, zur Ehrenrettung, per Zeitungsannonce öffentlich nach dem Vater sucht.
Wer aber die Tat verschweigt, schützt den Täter. Also füllt dieser Abend die Leerstelle mit Berichten dreier realer Vergewaltigungen. Kleist trifft hier auf Dokumentartheater – und was zunächst zumindest literarisch wie eine ungleiche Paarung wirkt, entwickelt sich zu einem intensiven Abend darüber, wie wichtig es ist, dass das Schweigen gebrochen wird und die Scham die Seite wechselt.