Opernkritik: Gebrülltes Glück
Gefeierte Premiere: Harry Kupfer hat Beethovens „Fidelio“ im Schiller-Theater als finsteres Mahnmal inszeniert
„Freiheit!“ steht in großen Buchstaben auf der Klagemauer, die sich im Hintergrund der Bühne auftürmt, dunkel und rau, als wäre sie aus Blei gegossen. Auch viele andere Kritzeleien sind zu erkennen, allesamt Inschriften, die Bühnenbildner Hans Schavernoch dem Gefängnis der Kölner Gestapozentrale entnommen hat. Ein finsteres Monument, ein Mahnmal. Doch es gibt Hoffnung: Wenn sich die riesige Türklappe der Wand in Bewegung setzt, strahlt es von hinten optimistisch hell.
Das symbolgeladene Bühnenbild ist neu. Sonst aber erinnert vieles in Harry Kupfers Inszenierung von Ludwig van Beethovens „Fidelio“ an der Staatsoper im Schillertheater an seinen Versuch vor 19 Jahren an der Komischen Oper. Damals hatte er seine Sängerdarsteller und den Chor noch in einen leeren Raum gestellt, wo sie agierten wie auf einer Probe. Auch jetzt wieder nehmen sie in besonders intensiven Passagen ihre „Fidelio“-Klavierauszüge in die Hand, blättern zuweilen darin, als wollten sie irritiert überprüfen, ob das da wirklich so steht, was ihnen auf der Bühne widerfährt. Kupfer schreibt dazu im Programmheft: „Eine Gemeinschaft von jungen Künstlern und ihren Dozenten beschließt, dieses Stück zu untersuchen und in einer improvisierten Handlung zu interpretieren.“
Für diese Herangehensweise gibt es gute Gründe. Dramaturgisch ist „Fidelio“ ein echtes Problemwerk, das zwischen Singspiel und Oratorium pendelt, mehr Philosophie als Psychologie. Jede Nummer ist von formaler Geschlossenheit. Aber der große erzählerische Bogen fehlt. Die Geschichte um Leonore, die sich als Mann verkleidet, um ihren Gatten aus dem Gefängnis zu retten (und nebenbei einen Despoten zu Fall bringt), ist eher rührselig. Beethovens Komposition aber macht einen oft statischen Klassik-Brocken mit Monsterfinale draus, mehr Sinfonie mit Stimmen denn mitreißendes Musikdrama, trotz großartiger Nummern. Mit den gesprochenen Texten haben wir heute ebenso ein Problem wie mit den vielen Momenten, wo mitten in der dramatischen Handlung die Zeit stehenbleibt – mit Realismus kommt man hier nicht weit.
Kupfer aber ist diesem Realismus verpflichtet. Deshalb die alles nur skizzierende Probensituation: Er führt seine Sängerdarsteller aus der privaten Pose in eine Situation und lässt sie sich dort mit Emotionen, Gedanken, Handlung auseinandersetzen. Dazu braucht er keine Helden-, sondern Menschensänger. Andreas Schagers Florestan zum Beispiel: prachtvoll trompetende Höhen, warmes Timbre in der Mittellage, ein Mann zum Anfassen. Wenn er im zweiten Akt „Gott! Welch ein Dunkel hier“ singt, dann tastet er sich erst allmählich in seine Rolle vor, legt sich selbst an die Kette. Ähnlich Camilla Nylunds Leonore: eine Frau von Nebenan, ungeschminkt, die blonden Haare zum Zopf gebunden. Dass die anderen sie für einen Mann halten, muss man glauben. Oft nimmt sie sich zurück, setzt auch in den heroischen Passagen auf leisere Töne. Großartig, wie ihre Stimme sich im dramatischen Höhepunkt, als sie sich mit „Töt’ erst sein Weib“ zwischen Florestan und Pizarro wirft, von ihrem Körper zu lösen scheint, überirdisch hell glüht, ein Kraftakt, der berührt.
Bei den anderen Solisten beginnt das Konzept der probenden, suchenden Menschen schon wieder zu bröckeln. Falk Struckmann etwa übertreibt maßlos als Aktentaschen-Tyrann, brüllt die Eindimensionalität des Bösewichts Pizarro gerade heraus. Evelin Novak als Marzelline und Florian Hoffmann als Jaquino singen hinreißend, bleiben aber als Figuren blass. Das kann Matti Salminen wiederum nicht passieren. Sein Rocco besitzt unnachahmliche Präsenz. Vokal, auch wenn ihm einiges an Schwärze abhanden gekommen ist. Und szenisch, weil er der einzige ist, der seine Rolle lässig unterspielt.
Dagegen wirken seine Kollegen oft wie am Beginn eines Method-Acting-Workshops: Schmeißt Euch in die Situation, und wir schauen, was passiert. Mal geraten die Gesten zu groß, dann wieder starren alle Richtung Parkett, statt sich füreinander zu interessieren. Glotzt nicht so romantisch!, ruft Kupfer mit Bertolt Brecht – und deutet jede konkrete Handlung nur an, überlässt es den Zuschauerköpfen, das auszuformulieren.
Wie Kupfer will Daniel Barenboim an die Idee Beethovens heran, treibt deshalb die Musik ins Extrem. Als Ouvertüre hat er sich für die „Leonore II“ entschieden, die Beethoven für die Uraufführung des Werkes 1805 komponiert hat. Anders als die knackige Einleitung der dritten und letzten „Fidelio“-Fassung von 1814 ist sie ein sinfonisches Werk für sich, nimmt keine Rücksicht auf Raum und Zeit. Erst recht nicht unter Barenboim, der die Staatskapelle mal auf der Stelle treten lässt und die grübelnden Momente zerdehnt, um dann loszupreschen, dass der Paukist kaum hinterherkommt. Das ist streckenweise faszinierend, geht aber – gerade im Verlauf des Abends – durchaus auf Kosten von Wohlklang und Sängerstimmen.
Am Krassesten im Finale: Da wird – wie zu Beginn – vor die Klagemauer ein Prospekt des Wiener Großen Musikvereinssaales heruntergelassen in all seiner goldstrahlenden Pracht, der Flügel mit Beethovenbüste wieder hereingeschoben, Chorpodeste aufgebaut, während die Protagonisten noch völlig benommen an der Rampe hocken. Anfangs ist die Freude nur musikalisch, aber dann steigern sich Chor und Solisten immer stärker in die Euphorie, lachen einander an, rücken nach und nach vor. Am Ende stehen sie wie eine Wand direkt am Graben und brüllen ihr Glück ins Parkett, dass einem die Ohren klingeln. Was ist das? Ein Rausch, der zu brutal geraten ist? Der Beweis, dass Beethovens Idealismus für menschliche Maßstäbe nicht taugt? Oder – gerade am 3. Oktober, dem deutschen Nationalfeiertag – der Hinweis darauf, wie schnell sich Freiheitstaumel ins brüllende Gegenteil verkehren kann? So oder so: Man verlässt ziemlich irritiert das Schillertheater. Und das ist nicht das Schlechteste, was einem in der Oper widerfahren kann.