Opernkritik: Streit am Gartenzaun

Opernkritik: Streit am Gartenzaun

Öko-Bildungsbürger gegen Cowboystiefel-Held: Rameaus Oper „Zoroastre“ hatunter der eigenwilligen Regie von Tobias Kratzer an der Komischen Oper Premiere

Das Leben in der Vorortsiedlung kann grausam sein. Links steht das Spießerglück, ein hell strahlendes Eigenheim, um das herum es grünt und blüht. Rechts brütet dumpf ein finsterer Proll-Bungalow mit zubetonierter Einfahrt. Dazwischen leuchtet ein kleiner Rasenfleck mit Butterblumen: Baktrien, das Reich, um das sich Zoroastre und Abramane erbittert streiten. Zur Ouvertüre packt Abramane seinen frisch gelieferten Maschendrahtzaun aus und schlägt das Rasenstück seinem Gelände zu. Als grundstücksstreiterfahrene Deutsche wissen wir: Das geht nicht gut aus.

So schlicht ist der Konflikt zwischen dem Religionsstifter Zoroastre (bei uns vor allem unter dem Namen Zarathustra bekannt) und dem Zauberer Abramane bei Regisseur Tobias Kratzer an der Berliner Komischen Oper. In Jean-Philippe Rameaus 1749 uraufgeführter und 1756 überarbeiteter Oper „Zoroastre“ geht es eigentlich um ein weltanschauliches Programm – die Freimaurer-Guten gegen das Finstere in der Welt. Dazu gehört das lange Hin und Her zwischen der hellen und der dunklen Macht, das Louis de Cahusacs Libretto ziemlich langatmig wirken lässt: Drei Mal wird Zoroastres Geliebte Amélite vom Gegner entführt, entsprechend oft muss der Titelheld sie zurückerobern.

Dazu gibt’s Erdbeben, Blitze, Höllengeister. Saftig klingt Rameaus Musik allerdings nur taktweise. Seine Bühnenwerke werden entsprechend selten gespielt: zu verzopft die Geschichten, zu akademisch seine Musik. Mit „Castor und Pollux“ hatte Barrie Kosky 2014 an der Komischen Oper streng und reduziert bewiesen, dass da was zu holen ist. Auch Kratzer, der in zwei Jahren in Bayreuth den „Tannhäuser“ inszenieren wird und sich zwischen Bremen, Basel und Karlsruhe den Ruf erworben hat, eines der größten Opernregietalente zu sein, kocht den Konflikt aufs Wesentliche ein: Öko-Bildungsbürger gegen Cowboystiefel-Held, die sich neben dem Stück Rasen auch um die Tussis auf High Heels streiten. Statt Gut und Böse gibt es hier nur Egoisten, die sich wegen Kleinigkeiten bis aufs Blut bekriegen.

Die Kleinigkeiten, das sind die Baktrier, das Volk. Hier: Ameisen, die auf dem umkämpften Quadratmeter Rasen leben. Videomacher Manuel Braun holt sie mit Wackelkamera und wie selbst gebastelt wirkendem Bluescreen auf die große Leinwand, die sich immer wieder als Vorhang herabsenkt. Wie die Tiere hier zwischen Tortenresten herumwimmeln, hat durchaus Witz. Aber Kratzer verkleinert so den lebensbedrohlichen Zaunkrieg zur Insektenklamotte: Als eine Ameise erschlagen wird, erheben die anderen ihre Ärmchen zur putzigen Klagegeste.

Noch gravierender: In den Ameisenkostümen stecken die Chorsolisten der Komischen Oper, ihr Gesang wird live übertragen, und das bekommt weder der Abstimmung mit dem Dirigenten noch dem Klang. Dabei gehören die Chöre zu den Höhepunkten der Oper! Erst im vierten Akt, als sie Abramane mit herrlich komplex komponierten Racherufen anfeuern, drängeln sie sich in den Logen vorm Bühnenportal – ein fulminanter Klangrausch.

Überhaupt der vierte Akt: Da stacheln sich Abramane und Érinice, die Zoroastre hasst, weil der nicht sie, sondern ihre Schwester Amélite liebt, im Hillbillyheim gegenseitig zur Vergeltung auf. Endlich kommt auch Rameau auf Touren mit Arien, die den Namen verdient haben. Hier kann Thomas Dolié mit seinem markigen Bariton lässig auftrumpfen, zeigt aber auch die verletzliche Seite des Baumfällerhemd-Machos. Als einer der wenigen auf der Bühne wirkt er zudem nicht so, als kämpfe er gegen den Rhythmus des steifen Libretto-Französisch an. Nadja Mchantaf jagt als Érinice hexenhaft durch ihre herrlichen Hasskoloraturen. Mit der zu Rameaus Zeiten gebotenen Schicklichkeit hat das ebenso wenig zu tun wie mit historischer Aufführungspraxis. Aber dafür glühen endlich die Emotionen. Die kommen bei den anderen zu kurz, weil Rameau und de Cahusac für Amélite blässliches Leiden oder freundliche Güte vorgesehen haben. Immerhin klingt das bei Katherine Watson allerliebst. Thomas Walker hingegen kämpft als Zoroastre nicht nur mit den Nachbarn, sondern auch mit den Verzierungen in unangenehm hoher Lage. Rameau ist kein Melodien-Held, sondern ein Komponist der gewagten Harmonien. Die kostet Dirigent Christian Curnyn mit dem Orchester der Komischen Oper lustvoll aus.

Am Ende hat zwar Zoroastre den Kampf gewonnen, allerdings ist das Rasenstück verwüstet, sind die Ameisen tot. Kratzer hat viele durchaus kluge Ideen, etwa wenn er aus König Oromasès einen Yogalehrer macht und aus den Nebenrollen Zopire und Narbanor ein schwules Paar, das opportunistisch den Konflikt verschärft, ohne sich dabei die Hände schmutzig zu machen. Außerdem spielen die Sängerdarsteller alle derart überzeugend, wie man es an diesem Haus gewohnt ist. Am Grundproblem ändert es nichts: Wenn die Geschichte wirklich so banal ist, wie die Nachbarschaftsstreit-Eskalation im Reality-TV-Look zu mitunter doch arg betulicher Musik nahelegt, warum muss man sie dann drei Stunden lang erzählen?