Porträt: Mit emotionaler Wucht
Mit den Asyl- und NSU-Monologen ist der Theaterregisseur Michael Ruf bekannt geworden. Wegen der Corona-Beschränkungen sind seine Mittelmeer-Monologe nun vorübergehend über das Telefon zu hören.
Was geht in jemandem vor, der in einem kleinen Boot mitten auf dem Meer treibt, drumherum nur Wasser und Dunkelheit? Wer sich in Deutschland durch die Nachrichten zappt, kann schnell vergessen, dass sich hinter Begriffen wie Frontex und Abschottung Menschenschicksale verbergen: Migrant*innen, die um ihr Leben kämpfen.
Doch plötzlich, am Telefon, ist man ziemlich nah dran. Da erzählt Selma, eine Freiwillige, die für die Hilfsorganisation Watch the Med Alarmphone arbeitet, wie es ist, auf dem Mittelmeer in Seenot geratene Menschen via Handy zu einem größeren Schiff oder ans rettende Ufer zu lotsen. Sie berichtet davon, wie Yassin anruft, dessen Boot die Orientierung verloren hat. Sollen sie weiter nach Norden fahren, Richtung italienischer Küste? Aber was, wenn der Akku versagt und sie auf dem Weg dahin verloren gehen? Oder Richtung Süden, zum Schiff der italienischen Küstenwache? Aber wird das Yassin und die anderen wirklich nach Italien bringen? Oder direkt an die libysche Küstenwache ausliefern?
Die Telefonstimme gehört der Schauspielerin Meri Koivisto, ihr Text zu den „Mittelmeer-Monologen“ von Regisseur Michael Ruf. Eigentlich finden die „Mittelmeer-Monologe“ seit 2019 auf der Bühne statt – in Theatern, Stadthallen, Initiativen. Wegen der Coronabeschränkungen mussten Ruf und sein Team allerdings umdenken. Deshalb erfanden sie für die Zeit des Lockdowns die Telefonversion, in der die Zuhörer*innen etwa zwanzig Minuten lang mit einer Geschichte, einer Perspektive vertraut gemacht wurden.
Das funktionierte hervorragend. Schon deshalb, weil alle von Rufs bisherigen Produktionen – die „Asyl-Monologe“, die „Asyl-Dialoge“ sowie die „NSU-Monologe“ – auch auf der Bühne vom Kopfkino lebten: Während die Schauspieler*innen an der Rampe stehen, oft mit dem Textbuch vor sich, entfaltet sich die eigentliche Wirkung der Beschreibungen und Emotionen in den Vorstellungswelten des Publikums. Wie auch jetzt wieder, da die Mittelmeer-Monologe erneut live gezeigt werden können, im Berliner Heimathafen und dem Silent Green, aber auch in Städten wie Hamburg und Fürth, Wismar und Wuppertal.
Dass die Mono- und Dialoge dabei konsequent die Perspektive der Betroffenen einnehmen, ausschließlich aus ihren Worten besteht – Ruf führt lange Interviews und verdichtet sie dann zur endgültigen Form, behält aber Wortwahl und Sprechduktus bei –, macht ihren Reiz aus. Es sind Erfahrungen und Gefühle aus erster Hand. Entsprechend berühren sie. Man kann sich kaum wehren gegen die Genauigkeit und emotionale Wucht der Erzählungen. Nur mit der Live-Musik übertreibt es Ruf zuweilen.
Der Erfolg gibt ihm Recht: Alle vier in den vergangenen zehn Jahren entstandenen Theaterstücke kommen insgesamt auf über 800 Vorstellungen. Das geht nur, weil er sich auf ein Netzwerk von rund 600 Schauspieler*innen und Musiker*innen stützt. So muss nicht eine Besetzung quer durchs Land reisen. Das spart zudem Kosten. Wie praktisch, dass Rufs sparsame Inszenierungen, die ganz aufs Wort und seine Wirkung zielen und nur mit ein paar Mikrofonen vor neutralem Hintergrund auskommen, auch problemlos Abstand ermöglichen, also coronatauglich sind. Deshalb gibt es jetzt schon wieder so viele Live-Termine.
Außerdem expandieren die Produktionen. Im November brachte Ruf die „Mittelmeer-Monologe“ mit amerikanischen Schauspieler*innen in Washington D.C. und New York auf die Bühne; demnächst wird das Netzwerk auch Richtung Österreich, der Schweiz und Ungarn erweitert. Zugleich arbeitet Ruf schon an der nächsten Inszenierung, die „Klima-Monologe“, die 2021 vom Hauptstadtkulturfonds gefördert werden – nicht nur finanziell ein Ritterschlag.
Lange produzierte Ruf seine Arbeiten für die Bühne für Menschenrechte, die er 2011 nach Vorbild der britischen Actors for Human Rights (Schauspieler für Menschenrechte) gründete. Nun arbeitet er unter dem Label „Wort und Herzschlag“. Das Projekt sei so stark gewachsen, dass er die gemeinnützige Unternehmergesellschaft gründete, um so leichter Förderanträge stellen zu können, sagt er. Gut möglich, dass auch interne Konflikte eine Rolle spielten – die Bühne für Menschenrechte existiert weiter, allerdings ohne Rufs Inszenierungen.
Diese Inszenierungen, die ein breites Presseecho erfahren und mehrfach ausgezeichnet wurden, sind aber – zusammen mit dem Künstler*innennetzwerk – das Tafelsilber der Unternehmung. Ihre Besonderheit: Anders als beim Dokumentartheater, das normalerweise im Stadttheater und der Freien Szene entsteht, wollen Ruf und seine Kooperationspartner*innen ihr Publikum nicht nur bewegen und aufklären, sondern auch zum Handeln verführen. „Beim Verbreiten von wenig gehörten Perspektiven darf es nicht bleiben“, sagt Ruf: „Die Leute sollen aktiv werden!“ Deshalb gibt es nach den Vorstellungen immer ein Publikumsgespräch, meist mit Leuten vor Ort, die sich zu dem Thema des Abends engagieren. Von einigen Organisationen sind regelmäßig Vertreter*innen dabei. Im Fall der Mittelmeer-Monologe etwa Sea-Watch, Watch the Med Alarmphone und Women in Exile.
Verändert sich dadurch etwas? Um das herauszufinden, telefoniert Ruf etliche Wochen nach einem Gastspiel mit den Gastgeber*innen, um zu fragen, was sich vor Ort geändert hat. Sind Menschen aktiv geworden? Hat die Sache Kreise gezogen?
Nachgespräche gab es auch bei der Corona-bedingten Telefonversion der „Mittelmeer-Monologe“. Gut 40 Minuten nach Selmas Monolog ruft Mohamad Naanaa von der NGO Eed de Eed an. Er erzählt, dass er gerade in Griechenland ist, um vor Ort den geflüchteten Menschen in den Camps zu helfen. Er selbst stammt aus Syrien und konnte mit einem Visum der deutschen Botschaft in der Türkei legal nach Deutschland fliegen. Seitdem setzt er sich für flüchtende Menschen ein, die es weitaus härter getroffen hat. Wie? „Ich will die Menschen über die katastrophalen Umstände hier informieren“, sagt er, „Artikel schreiben, Organisationen vor Ort helfen“. Wer nicht hinreisen könne, solle spenden.
Noch während des Gesprächs will man sofort zum Onlinebanking klicken. Denn nach der düster grundierten Erzählung von der Handy-Seenotrettung strahlt einem Mohamads mitreißende Energie und fröhliche Menschlichkeit aus dem Telefon als Hoffnung entgegen. Auf die Frage, wie man helfen könne, verspricht er, eine Liste mit Organisationen zusammenzustellen. Eine Woche später ist die Mail da. So realitätsverändernd ist Theater selten.