Newsletter: Was danach kommt

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Newsletter der nachtkritik.de-Redaktion vom 12. November 2020: Proben im Lockdown + Personalkarussell + Postpandemisches Theater

Guten Morgen,

merkwürdige Zeiten sind das: Donald Trump, der Theaterleute liebster Gegner, ist abgewählt, aber es wird wohl noch lange dauern, bis wir ihn richtig los sind. Ein Corona-Impfstoff ist im Prinzip fertig, aber es wird dennoch lange dauern, bis genug davon da ist und alle damit versorgt sein werden. Derweil ist Lockdown in Großbritannien zum Wort des Jahres gewählt worden. Wie lange er noch dauert? Man muss schon Optimist sein, um daran zu glauben, dass am 1. Dezember die Theater wieder ihre Pforten öffnen dürfen.

Und warum? Wegen der immer noch bestürzend hohen Ansteckungszahlen. Was, wenn der gesellschaftliche Auftrag der Theater „aktuell darin bestünde, eine Spielpause einzulegen“, fragt Esther Slevogt in ihrer heftig diskutierten Kolumne: „Unsere Kultureinrichtungen arbeiten sich stattdessen an der Kränkung ab, die es für sie offenbar bedeutet, als Freizeitgestaltung angesehen zu werden. (…) Dabei sind sie genau das: Hat doch die mit der Industrialisierung einhergehende Arbeitsteilung und die dadurch entstehende Freizeit die Kulturtechnik Theater im 19. Jahrhundert entscheidend mit befördert. Freizeit ist nichts Schlimmes. Dazu hat sie erst das neoliberale Effizienzdenken erklärt. Freizeit ist die Gestaltung von Freiheit. Und dazu kann auch gehören, den Laden geschlossen zu halten.“

Mitten in die aktuelle Theaterschließung platzten zwei Personalmeldungen, die weit in die Zukunft weisen – was immerhin der Hoffnung Ausdruck gibt, dass die Kulturpolitik noch an eine Zukunft der Theater glaubt. Iris Laufenberg, noch Intendantin in Graz, übernimmt ab 2023/24 als erste Frau überhaupt die Leitung des Berliner Deutschen Theaters. Diese Entscheidung habe ich kommentiert: „Anders als ihr Vorgänger Ulrich Khuon, der mit den größtmöglichen Vorschusslorbeeren aus Hamburg abgeworben wurde und es dann in den ersten Spielzeiten schwer hatte, Tritt zu fassen, beobachtet man diese Personalie mit ehrlichem Interesse, ohne gleich die ganz großen Erwartungen zu schüren. Das kann für Laufenberg von Vorteil sein. Schon andere brauchten am DT einen langen Atem: Die Großtaten von Jürgen Gosch, Dimiter Gotscheff und dem jungen Michael Thalheimer überstrahlten erst in der zweiten Hälfte die mauen Anfangsjahre der Intendanz Bernd Wilms.“

Außerdem wurde bekannt, dass Oliver Reeses Vertrag am Berliner Ensemble bis 2027 verlängert wurde. Dort probt Frank Castorf derzeit wieder seine Version von Erich Kästners „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“; die Premiere wird gerade zum zweiten Mal verschoben. Auf der Bühne mit dabei: Sina Martens und Frank Büttner. Wie gehen sie damit um, jetzt wieder neu anzusetzen – ohne zu wissen, wann sich der Lappen hebt? Antworten gibt’s im Interview mit Christian Rakow.

Zum Abschluss unserer Serie zu 30 Jahren deutsch-deutscher Wiedervereinigung hat Regisseur und Szenograf Atif Mohammed Nour Hussein ein so faszinierendes wie bedrückendes Kaleidoskop an Erinnerungen und Eindrücken aufgeschrieben, das kenntlich macht, warum bei der Erinnerung an Mauerfall und Vereinigung nicht alle in Jubel ausbrechen. Denn 1989/90 war eben auch der Beginn von einer nicht abreißenden Kette von Nationalismus, rassistischen Angriffen und Anschlägen: „Freitag, 20. April 1990, abends, Templin, Puppentheater. (…) Geräusche an der Haupttür. Sekunden später: sieben große Kerle im winzigen Theatersaal. Lange Haare. Schwarze Lederwesten mit SS-Runen. Schwere Stiefel. Das Echo von Willy Brandt. Das Echo der Hymne. Das Echo der Pfiffe. Weißes Rauschen … 20. April 1990 – Adolf Hitlers 101. Geburtstag.

Guckt man sich die Spielpläne der deutschsprachigen Bühnen an, bedienen sie sich schon sehr oft am selben Stücke-Pool: Shakespeare, Tschechow, Reza. Müsste man da nicht was ändern?, fragte sich FAZ-Redakteur Simon Strauß. Über sein Projekt „Spielplanänderung“, das nach vergessenen Stücken sucht, die eine Wiederentdeckung lohnen, sprachen via Zoom Simone Kaempf und Janis El-Bira: Sagt der Kanon vielleicht mehr über die Menschen aus, die ihn aufstellen, als über die Qualität der Werke? „Klar“, findet Strauß, „neben Shakespeare gab es noch mit Aphra Behn die erste Dramatikerin der Literaturgeschichte. Warum wird die eigentlich nicht gespielt?“

Anregungen für die Zeit nach dem Shutdown gibt es also. Gesammelt werden sie auch bei der Online-Konferenz Postpandemisches Theater, die von nachtkritik.de gemeinsam mit dem Literaturforum im Brecht-Haus Berlin und der Heinrich Böll Stiftung veranstaltet wird und noch bis morgen danach fragt, wie die Corona-Pandemie das Theater und seine Stellung in der Gesellschaft verändert: u. a. mit Claudia Bauer, Janina Audick und Matthias Lilienthal.

Eine anregungsreiche Woche, on- wie offline, wünscht
Georg Kasch