Theaterkritik: Durchs Raster fällt ein Mensch

Theaterkritik: Durchs Raster fällt ein Mensch

Das Leben des Vernon Subutex 1 – Schaubühne Berlin – Thomas Ostermeier inszeniert den ersten Teil von Virginie Despentes‘ Romantrilogie als Monolog-Reigen mit Rockeinlagen

Nun sitzt er da auf seiner Pappe und hält die Hand auf. Lange hat Vernon versucht, sich nicht gehen zu lassen, nachdem er aus seiner Wohnung geflogen ist, hat Freunde angeschnorrt, sich bei ehemaligen Geliebten einquartiert, ist bei einem kokainabhängigen Spekulanten untergekrochen und am Ende, als nichts mehr ging, U-Bahn gefahren. Eine Weile gelingt es ihm leidlich, die letzte Fassade zu wahren, nicht jedem unter die Nase zu reiben, dass er vollkommen pleite und obdachlos ist, ein Niemand von Anfang 50, dessen altes Charisma nur noch selten durchblitzt. Jetzt ist er unten angelangt. „Und hat einfach die Hand ausgestreckt.“

Charaktere in allen Erosionszuständen

Dieser Moment in Viriginie Despentes‘ erstem Teil ihrer Romantrilogie „Das Leben des Vernon Subutex“ ist noch lange nicht das Finale (da kommen noch etwa 70 Seiten). Bei Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne schon. Denn darum geht’s ihm: zu zeigen, was das System mit einem macht, wenn man nicht mehr funktioniert, ganz gleich, was man eigentlich für ein Mensch ist, mit welcher Geschichte, welchen Eigenschaften, welchen Träumen. Ostermeier will nichts weniger als die Klassenfrage verhandeln: Wie kann es sein, dass in unserer Gesellschaft Schmalspur-Choleriker und Arschlöcher wie Kiko und Laurent im Koks baden, während von der Zeit überrollte Figuren wie der gewesene Schallplattenhändler Vernon aus dem Raster fallen?

Es ist diese Frage, die immer präsent ist in Despentes‘ (insgesamt) 1200-Seiten-Panorama Pariser Menschen, die sie in Balzac’scher Manier und mit Houellebecq’scher Bissigkeit miteinander verflicht. Die aber nie konkret gestellt wird, sondern unter der süffig geschriebenen Oberfläche pulst, den herrlich plastischen Charakteren aus allen Schichten und in allen seelischen Erosionszuständen. Das Hypnotische an dieser Trilogie ist, dass man sich auf jede Figur neu einlässt, auch auf den Neonazi Xavier, auch auf die oberflächliche Läster-Tussi Sylvie, und dass Despentes oft überraschend die Leser:innen-Perspektive ändert, weitet, man einen völlig neuen Blick sowohl auf die Charaktere als auf die Handlung bekommt (und sich selbst bei den eigenen Vorurteilen und Denkverengungen ertappt).

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