Kolumne: Der Gnade Heil

Kolumne: Der Gnade Heil

Was sollen die Schweriner mit Dragqueens bei Wagner? Sollte man die Leute in Zeiten von Zuschauer:innen- und Aboschwund nicht mit etwas abholen, mit dem sie was anfangen können? Nicht, wenn Theater eine derart transformative Kraft entwickelt.

Draußen ist Krise, drinnen in den Theatern füllen sich die Säle nicht mehr richtig, und manchmal ertappt man sich selbst bei dem Gedanken: Braucht’s das alles noch, wenn selbst die stärksten Abende nicht voll werden? Dann zieht man doch wieder los und stolpert in erstaunlich viele Produktionen voll künstlerischer Kraft und neuer Erkenntnisse. Aber nichts, auch nicht die virtuos vollkommeneren Abende der letzten Monate, hat mich so berührt wie der „Tannhäuser“ in Schwerin.

Eigentlich geht es in Richard Wagners Oper, in der er den Venusberg-Mythos mit dem Sängerkrieg auf der Wartburg mischt und kunstreligiös abschmeckt, um das romantische Liebesideal: Liebe, Leiden- und Partnerschaft, das muss doch alles zusammen zu haben sein! Nur scheitert’s halt meist an den Verhältnissen. Das bleibt auch bei Regisseur Martin G. Bergers queerer Variante so. Während des Vorspiels werfen Schwarzweißbilder Schlaglichter auf Tannhäusers Kindheit und Jugend, seine pubertäre Dreiecksbeziehung zu Elisabeth und Wolfram. Einmal streift er am (Schweriner) See Elisabeths Kleid über, neugierig, verschämt. Ist Tannhäuser ein Crossdresser? Trans? Oder einfach unglücklich damit, in nur einem Geschlecht und seinen festgelegten Rollen zu stecken?

Jedenfalls heiraten er und Elisabeth, bekommen Kinder. Doch dann reißt es ihn: Er verlässt seine Familie, verwandelt sich im Glitzer-Nachtclub Venusberg in eine Dragqueen. Allerdings ist er nicht gemacht für nur eine Welt. Also wischt er das Makeup wieder ab, wird – zurück im bürgerlichen Leben – von den alten Sänger-Kumpels sofort vereinnahmt. Er wehrt sich, bleibt aber wegen Elisabeth, die er offenbar immer noch liebt, zum Sängerfest, das hier so eine Art Nachbarschaftsfeierlichkeit an Bierbänken ist (ein Schild informiert: „Danke für 25 Jahre Kultur, Inklusion, Gemeinschaft“). Beim Contest um den besten Liebes-Lobpreis fällt er allerdings durch, weil ihn die anderen mit ihren aseptischen, nicht lebbaren Konzepten reiner Liebe derart anöden, dass er wieder mit Venus ankommt und der Sinnlichkeit – und zwar in Drag.

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