Kolumne: Blick auf Augenhöhe

Kolumne: Blick auf Augenhöhe

Wie sensibel oder unsensibel können Kritiken sein? Und welches Maß an Vorbildung sollten sie sich zur eigenen Verfeinerung abverlangen? In solchen Fragen gilt es, genau hinzuschauen: etwa auf das Beispiel eines Abends von Taylor Mac am Badischen Staatstheater Karlsruhe.

Was darf Kritik? Im Prinzip alles. Bejubeln, verreißen, beschreiben, die Meinung zwischen den Zeilen verstecken, Beteiligte erwähnen oder auch nicht erwähnen, kulturpolitische Debatten führen oder einen Abend zum Anlass nehmen, um über etwas ganz anderes zu schreiben. Kritik darf auch ignorant sein. Aber dann muss sie sich halt auch Fragen gefallen lassen (Hundekot allerdings ist keine Frage, sondern Gewalt).

Weil: Natürlich besitzen wir als Kritiker:innen eine Verantwortung. Wir lassen Menschen, die wir nicht kennen und kaum einschätzen können, einen Abend so wahrnehmen, wie wir ihn selbst filtern. Dazu müssen wir eine Auswahl treffen, uns auf wenige Szenen und Eindrücke beschränken, um auf begrenztem Platz ein Bild des Abends, eine Kontextualisierung und Wertung unterzubringen. Und das alles in einer Sprache, die unser Handwerk ist, unser Stil, unser Markenzeichen, die aber auch durch unsere Sozialisation geprägt wurde und wird.

Vor wenigen Wochen hatte in Karlsruhe „HIR“ Premiere, ein Stück von Taylor Mac. Taylor Mac – Pronomen: judy – hatte 2019 in Berlin und jetzt gerade bei den Lessing-Tagen in Hamburg mit judys „Show A 24-Decade History of Popular Music“ für Furore gesorgt. In „HIR“, 2014 entstanden, geht es um eine typische US-amerikanische Kleinfamilie. Als GI Isaac vom dreijährigen Auslandseinsatz zurückkehrt – unehrenhaft entlassen wegen Drogenmissbrauch und PTBS-Patient –, haben sich allerdings überall die Vorzeichen verkehrt: Sein Vater Arnold sitzt nach einem Schlaganfall zugedrogt und vernachlässigt in der Ecke, seine Mutter Paige schwingt autoritär das Zepter, und die Person, die er noch als Schwester kannte, heißt jetzt Max und ist ein junger Mann.

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