Musicalkritik: Unmoral siegt!

Musicalkritik: Unmoral siegt!

Moral ist nicht. Dafür Mord, Schmeichelei und Lüge. Wer zahlt, gewinnt. So geht es zu im berühmten Musical „Chicago“ des Trios Fred Ebb, Bob Fosse und John Kander, 1975 in New York uraufgeführt. Barrie Kosky hat es jetzt an der Komischen Oper Berlin als Glitzerspektakel mit Brecht-Appeal aufgelegt. Und was für eins!

Ist die Welt ein Zirkus? Hier schon: Wenn die große Gerichtsverhandlung ansteht, in der die Jury (wir sind in den USA) entscheiden soll, ob Roxy Hart wegen Mordes hingerichtet oder freigesprochen wird, senkt sich ein glühbirnengespicktes rundes Podest herab. Hier führen Roxy und ihr Anwalt Billy Flynn ein Spektakel auf, das die Geschworenen und die Presse zu Statisten macht: Er gibt die geschliffenen Stichworte, sie zieht alle Register zwischen Demut, bedrängter Unschuld und Kämpferin für die Liebe.

Natürlich ist das erlogen, natürlich funktioniert’s. It’s showbiz! Erst recht an diesem Abend, denn Regie führt Barrie Kosky in „Chicago“ von Fred Ebb, Bob Fosse (Buch) und John Kander (Musik). Von Ebb und Kander stammt auch „Cabaret“ von 1966, das an Mehrspartentheatern und manchen Schauspielhäusern rauf und runter gespielt wird. Dabei hat das Musical-Vaudeville von 1975 in seiner moderierten Nummernhaftigkeit, seinem zwar gutgelaunten, aber doch moritatenhaften Zeigegestus viel mehr von Bertolt Brecht. Viele Songs wie „All That Jazz“ und „When You’re Good To Mama“ sind Ohrwürmer, einige klingen zudem nach Kurt Weill, „Class“ zum Beispiel, zumal sie hier auf Deutsch gesungen werden.

Kosky greift das Episch-Brecht’sche im Schillertheater auf, einst die Westberliner Staatsbühne und nun schon seit vielen Jahren Ausweichspielstätte für Bühnen auf Sanierungs-Wanderschaft. Da passt dieser Auftakt mit „Chicago“, einer in den Glamour getriebenen „Dreigroschenoper“ gut (die Kosky ja auch schon inszeniert hat am Berliner Ensemble). Unmoral siegt, und der Brecht-Satz vom Einbruch und der Gründung einer Bank ließe sich hier so abwandeln: Was ist ein Mord an einem Mann angesichts des Mordens in der Welt?

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