Opernkritik: Spitzentanz mit Krücken

Opernkritik: Spitzentanz mit Krücken

Erstaunlich, dass sie noch nie in Berlin gezeigt wurde: Massenets Version des Aschenputtel-Stoffs kommt als starkes Regietheater an die Komische Oper – inklusive Happy End

Was für ein Märchen! Der Startänzer wählt seine Super-Ballerina – und alle drehen durch. Ob Frau, ob Mann, sie zwängen sich in blaue Kleider, um dem Disney-Cinderella-Ideal zu ähneln, das als Pappaufsteller die Richtung vorgibt. Auf ihrem leeren Gesicht aber prangt ein Fragezeichen: Wer wird der nächste Champ des Tanzes?

Dass die Außenseiterin mit dem guten Herzen am Ende den Prinzen erobert, rührt die Menschen seit Jahrhunderten. 1697 veröffentlichte der französische Dichter Charles Perrault „Cendrillon“, aus dem die Brüder Grimm später „Aschenputtel“ machten und Jules Massenet seine „Cendrillon“-Oper von 1899. Eigentlich erstaunlich, dass die noch nie in Berlin gezeigt wurde. Zum einen hat Massenet die verschiedensten Kompositionsstile von der Einstimmigkeit über barocke Polyphonie bis zum Impressionismus mit einer äußerst farbenreichen Orchestrierung zu einer faszinierenden Einheit zusammengeschweißt, in der Platz ist für satte Emotionen. Zum anderen sind die Figuren psychologisch überraschend genau motiviert.

Eine ernstzunehmende Märchenoper also, die Damiano Michieletto bei seinem Regie-Debüt an der Komischen Oper als Geschichte eines doppelten Erwachsenwerdens erzählt. „Cendrillon“ spielt bei ihm in der Welt des Balletts, einer Welt voller Ehrgeiz und Neid, normierter Körper und Konkurrenzdenken. Der Startänzer-Prinz sucht seine Primaballerina, die Ballettmeisterin-Stiefmutter will ihre unbegabten Töchter unterbringen. Cendrillon aber liegt mit einem kaputten Bein im Krankenhaus. Tanzen? Das geht nur mit Zauberkraft – oder im Traum. Überraschend, wie Bühnenbildner Paolo Fantin in seinem tiefen, schmucklosen, etwas angegrauten Raum, halb Ballettprobensaal, halb Krankenhaus, diese Traumstimmung hervorzurufen vermag.

Wie bei vielen starken Konzepten, die auf eine Opern-Geschichte gelegt werden, klafft auch hier zuweilen die Text-Bild-Schere mächtig auseinander. Dennoch geht Michielettos Übertragungsversuch auf. Denn was die Inszenierung an logischen Stolpersteinchen produziert, macht sie locker durch eine neue Dringlichkeit der Geschichte wett. Wenn sich Cendrillon bei Massenet umbringen will, weil der Prinz sie scheinbar nicht liebt, dann wirkt das im Märchenkontext etwas aufgesetzt. Wenn sie sich hier, im Krankenhaus, mit Pillen vollstopft, dann eben auch, weil eine Zukunft für sie mit einem offenbar permanent versehrten Bein nicht lebenswert erscheint.

So häufen sich die Momente, in denen einem schier der Atem wegbleibt wegen der Grausamkeit der Menschen und der Ausweglosigkeit von Cendrillons Schicksal. Etwa als sich Cendrillon und der Prinz im Märchenwald begegnen – da fahren bemalte Prospekte in die triste Realität herunter, tanzt ein Paar, das ihnen äußerlich gleicht, die herrlichsten Petipa-Figuren, während Cendrillon vergeblich versucht, ihr kaputtes Bein vor dem Prinzen zu verstecken, das von einer monströsen Schiene gestützt wird.

Das geht einem auch deshalb so an die Nieren, weil sich in Nadja Mchantafs Stimme Verzweiflung und Euphorie kontrastieren, sich dramatischer Aufschrei und duftig-leichte Glückskoloratur abwechseln. Das klingt so facettenreich wie wunderbar und verschmilzt völlig mit ihrer zutiefst berührenden Darstellung. Mchantaf ist eine hervorragende Schauspielerin, die zudem lässig auf Spitze tanzen kann. Ein Versprechen für die Zukunft – ab nächster Spielzeit gehört die Sängerin fest zum Ensemble.

Zumal sie herrlich mit Karolina Gumos als Prinz harmoniert, deren Mezzo hell und kraftvoll strahlt. Ihr androgyner Trotzkopf ist ein Teenager an der Schwelle zum Erwachsenwerden, der sich plötzlich entscheiden muss: Tanzkarriere oder ein Leben an der Seite einer faszinierenden Frau, die er als federleichte Ballerina kennenlernt, die sich aber als gehbehindert erweist.

Wo bleibt bei so viel Realismus das Märchen? Zum einen in der Musik, an der Henrik Nánási und das Orchester der Komischen Oper weben, oft duftig und leicht, wobei sie die dramatischen Momente ziemlich brutal betonen. Massenet wird das nicht unbedingt gerecht, diesem Meister der Zwischentöne, aber es passt zur düsteren Deutung der Inszenierung.

Zum anderen klingt und singt das Märchen in den Feen, alte Frauen in grauen Mänteln (Klaus Bruns schuf die klug zitierenden Kostüme), die rührend langsam über die Bühne tapern, Glitter verpusten und meterweise Stoff weben, um daraus Cendrillons Ballkleid zu schneidern. Ihre Zauberkraft könnte genauso gut nur in Cendrillons Kopf existieren – bevor sie auftauchen, bekommt das Mädchen eine Beruhigungsspritze verpasst. Wenn die Fee und ihre Helferinnen ein zweites Mal eingreifen, dann in der an sich ja illusionären Welt einer Ballettaufführung.

Sicher ergeben sich in dieser starken Deutung logische Brüche. Sicher könnte man sich auch die funkelnden Koloraturen der Fee präziser vorstellen – Mari Eriksmoen tupft sie zuweilen etwas nachlässig hin. Und vielleicht ist diese Tanz-Gesellschaft, angeführt von Agnes Zwierkos beeindruckend biestiger Stiefmutter, die insbesondere ihre tiefe Lage für eine vokale Abgründigkeitsstudie nutzt, doch ein bisschen eindimensional fies (aber immerhin eine Steilvorlage für den spielfreudigen Chor). Dennoch ist diese „Cendrillon“ beispielhaft, weil sie zeigt, wie gutes Regietheater ein Werk, das man auch als Belle-Epoque-Realitätsflucht abtun könnte, fürs Heute fruchtbar machen kann. Am Ende setzt sich der Prinz durch – gegen den Intendanten-König, gegen eine böse, fratzenhafte Gesellschaft, gegen die Doktrin der schönen Körper. Er wirft seine Ballettschuhe weg und umarmt die humpelnde Cendrillon. Was für ein Märchen!