Opernkritik: Liebe und Leiden in der Unterschicht

Opernkritik: Liebe und Leiden in der Unterschicht

„Geschichten aus dem Wiener Wald“ werden in der Komischen Oper zu einem zeitgemäßen Prekariatsdrama. Dazu pulst im Graben ein spätromantisches Orchester mit starkem Blech-Akzent und aufgemotztem Schlagwerk.

Am Abend der schicksalhaften Präsidentenwahl in Österreich wirkt das natürlich wie ein Ausrufezeichen: Auf der Bühne der Komischen Oper hängt ein zwei Jahre altes Plakat des FPÖ-Spitzenkandidaten HC Strache mit dem Slogan: „Liebe deine Nächsten. Für mich sind das unsere Österreicher“. Das passt. Denn in Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“, uraufgeführt am Deutschen Theater 1931, geht es um eine Gesellschaft in der Krise. Horváth zeigt die Menschen am Rand. Kleinbürger, die sich mit Kalendersprüchen über Wasser halten und gegen ihre Abstiegsängste anhassen. Und solche, die schon unten sind, sich irgendwie durchschlagen zwischen Arbeitslosigkeit, Pferdewetten und Schnorrerei. Sogar einen Nazi gibt’s.

2014 hat der in Wien geborene und aufgewachsene HK Gruber für die Bregenzer Festspiele eine Oper aus Horváths hartem Anti-Volksstück gemacht. Das bietet sich gleich mehrfach an. Horváths Sprache besitzt gerade in seinem Geplapper einen musikalischen Rhythmus. „In der Luft ist ein Klingen und Singen – als verklänge irgendwo immer wieder der Walzer ‚Geschichten aus dem Wiener Wald‘ von Johann Strauß“, heißt es in einer Regieanweisung, dazu durchziehen Motive aus „La Bohéme“ und dem Lied „Da draußen in der Wachau“ das Stück.

Außerdem gibt es mit Marianne eine große Leidensfigur, die es spielend mit den tragischen Verdi- und Puccini-Heldinnen aufnehmen kann. Sie bricht aus der Verlobung mit dem tumben Fleischer Oskar aus und wirft sich in die Arme des Hallodris Alfred. Ihr Vater verstößt sie, die Gesellschaft schneidet sie, aus Geldmangel singt sie in einer Art Puff. Am Ende ist ihr gemeinsames Kind tot, Alfred längst wieder bei seiner alten Gönnerin Valerie. Und Marianne landet, vollkommen gebrochen, erneut in Oskars Armen, dessen Prophezeiung sich bestätigt: „Du wirst meiner Liebe nicht entgehn…“

Der 1943 geborene Gruber gehört zu den großen Chamäleons der zeitgenössischen Musik. Er kann alles von der Fuge bis zum Cluster – und nutzt das zu Werken, die in ihrer Vielfalt und in ihrem Witz beispiellos sind. Vor allem aber traut er sich, für große Gefühle auch große Melodien zu schreiben. Etwa für Marianne, deren Sehnsuchts- und Verzweiflungs-Kantilenen sich einem unmittelbar ins Herz fräsen.

Dazu pulst im Graben ein spätromantisches Orchester mit starkem Blech-Akzent und aufgemotztem Schlagwerk. Oft folgt Grubers Partitur etwas sklavisch dem von Librettist Michael Sturminger eingekürzten Horváth-Text, was den Sängern einiges abverlangt im Wechsel zwischen Sprechgesang und vokaler Explosion. Richtig groß wird sie immer da, wo sie kommentiert, eine Interpretation wagt. Wie in den reinen Instrumentalpartien, in denen das Orchester der Komischen Oper unter Hendrik Vestmann prachtvoll aufblüht mit schneidenden Schärfen und bitterer Präzision, um sich dann gegenüber den Solisten zurückzunehmen, bewundernswert klar und präzise agiert. Toll, wie die Strauß’sche Walzerseligkeit zu Fragmenten zerfällt und durch die Stimmgruppen geistert, wie kalt das präparierte Klavier klimpert und wie die Cabaret-Band den Weill’schen Geist zitiert.

Wien trifft Berlin also in der Musik – und auf der Bühne. Der polnisch-österreichische Regisseur Michał Zadara verlegt die Geschichte an den Berliner (Stadt-)Rand und erzählt sie als heutiges Prekariatsdrama. Auf einem Parkplatz an einem betonierten Flussbett feiert eine kleine Gesellschaft aus tätowierten Grillern Mariannes Verlobung – ein Wimmelbild aus schrägen Typen in Bikinis und Hotpants zwischen prollig aufgemotzten Autos. Mariannes Vater ist hier ein daueralkoholisierter Rocker, Marianne selbst trägt neonfarbene Strähnchen im Haar, ihr Verlobter ein Feinrippunterhemd zur Johnny-Cash-Gedächtnistolle.

Dieses Unterschichtspanorama pinseln Zadara, Robert Rumas (Bühne) und Julia Kornacka (Kostüme) mit großer Freude am realistischen Detail aus, ob vor einer Tankstelle oder in der Kleingarten-Hölle. Gerade im ersten Teil wirkt das etwas zerdehnt. Außerdem läuft der Abend Gefahr, Horváths und Grubers Figuren zu denunzieren. Dagegen helfen Verfremdungseffekte nur bedingt: Immer wieder bauen Techniker bei laufender Geschichte die Bühne um. Und wenn jemand geschlagen wird, malt ihnen ein Maskenbildner Blut ins Gesicht.

Dem Voyeurismus gilt auch die Schlusspointe: Als Marianne am Ende zusammenbricht, versucht Oskar das als ideales Fotomotiv auszuschlachten. Und einer der stärksten Momente des Abends, die Szene im Cabaret, einer Art Puff mit Showbühne. Zum einen verdichten Sturminger und Gruber hier Horváth klug (wie überhaupt nach der Pause alles dichter gestrickt ist). Zum anderen singt Marianne das Wachau-Lied halbnackt. Zwischen all den bekleideten Männern wirkt Cornelia Zink enorm verletzlich. Man möchte ihr sofort einen Mantel reichen. Aber gerade dadurch wird ihre Erniedrigung so fassbar. Eine Erniedrigung, gegen die sie bis zuletzt ansingt mit bewundernswertem Ganzkörpereinsatz und einem Furor, als könne sie mit ihrer aufwühlenden Stimmgewalt Mariannes Ketten sprengen.

Auch in den weiteren Rollen kann die Komische Oper mit hervorragenden Sängerdarstellern prunken: Ursula Hesse von der Steinens Trafikantin Valerie lässt zwischen egoistischer Erbsenzählerei mit ihrem betörend warmen Mezzo Menschlichkeitsfunken durchblitzen. Fiese Männlichkeits-Karikaturen sind die Männer, Tom Erik Lies Alfred, Adrian Stroopers Oskar und Jens Larsens Zauberkönig. Ein Coup ist die Besetzung der Großmutter: Die 74-jährige Karan Armstrong, die an der Deutschen Oper jahrelang die großen Sopranrollen sang, verfügt immer noch über eine beeindruckende Bühnenpräsenz.

So beweist die Komische Oper mit dieser deutschen Erstaufführung nicht nur ihre Potenz in Sachen zeitgenössischer Musik und Ensembleleistung. Sondern auch, dass Grubers „Geschichten aus dem Wiener Wald“ ins Repertoire gehört. Am Ende gibt’s Jubel vor allem für das Orchester, den angereisten Komponisten und für Cornelia Zink.