Saisonrückblick: Kraftwerke großer Gefühle

Saisonrückblick: Kraftwerke großer Gefühle

Die Berliner Opernhäuser haben in dieser Saison viel gewagt und gewonnen. Eine künstlerische Bilanz

In Opern liegen Triumph und Absturz oft dicht beieinander. Bei den Operninszenierungen der Saison auch. Barrie Kosky, Hausherr der Komischen Oper, hat in der zurückliegenden Spielzeit mit „Jewgeni Onegin“ für den Höhepunkt der Spielzeit gesorgt: mit einer zwingenden psychologischen Figurenführung vor beeindruckender Seelen-Landschafts-Kulisse, in der Asmik Grigorian und Günter Papendell brillieren. Wie unbedingt hier die Emotionen glühen! Plötzlich versteht man dieses so oft erlebte Werk völlig neu. Koskys Fassung von Jaques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ hingegen ging nicht auf, weil zwar überall brillante Funken glimmen, aber das Werk ebenso zerbröselt wie das Interesse am dicken Suffkopp, der im Flaschenmeer vor sich hinbrabbelt – da kann Nicole Chevalier noch so fulminant das Vorurteil widerlegen, dass in der Behrenstraße in erster Linie überzeugend gespielt, aber bestenfalls anständig gesungen wird.

Immerhin: Jedes der drei Berliner Opernhäuser hatte 2015/16 seine strahlenden Höhepunkte. Lange vorbei die Zeiten, in denen darüber diskutiert wurde, eines von ihnen zu schließen. Die Deutsche Oper setzt im Wesentlichen auf das lange 19. Jahrhundert und große Stimmen, die Staatsoper schlägt stargespickt den großen Bogen vom Barock bis heute. Und die Komische Oper schafft mal wieder besonders lässig den Spagat zwischen großer Kunst und großer Unterhaltung. Ziemlich klare Profile also, die vermutlich stärker an den einzelnen Intendanten und musikalischen Leitern als an der Opernstiftung liegen. Dass sie nicht verhindern können oder wollen, das die Deutsche und die Staatsoper denselben Regisseur im Premieren-Programm hatten (in dieser Spielzeit Claus Guth) und dieselben Sänger-Stars (Sonya Yoncheva etwa rockte die solide neue „Traviata“ im Schillertheater und sang später an der Bismarckstraße die Mimì), irritiert aber doch. Ist die Regisseurs- und Sänger-Auswahl weltweit so überschaubar? Und wo bleiben eigentlich Regisseure wie Stefan Herheim und Christof Loy?

Immerhin haben zwei Häuser etwas gewagt, als sie begabte Schauspiel-Regisseure engagierten, um so neue Handschriften zu erschließen. Nur sollte man längst wissen, dass dieser Fachwechsel kein leichter ist und Oper völlig anders tickt. Meist ist der Chor ein guter Indikator dafür, ob ein Regisseur das verstanden hat. Weiß jeder auf der Bühne, was er oder sie tut? Sieht man Individuen statt Masse? Wunderbar! Stolpern die Leute vor sich hin oder verkörpern sie allenfalls Klischees? Das wird nichts. So wie an der Komischen Oper, wo sich Antú Romero Nunes durch Heinrich Marschners ohnehin schon halbtoten „Vampyr“ splatterte und ihn vollends mit Zombiechor, Kunstblut und aufdringlicher Charge erledigte. An der Deutschen Oper killte Rodrigo García mit Monstertruck, Christal-Meth-Küche und Gruppensex jedes Interesse an den Figuren von Mozarts „Entführung“.

Aber es gab auch erstaunliche Neuentdeckungen. Damiano Michieletto debütierte an der Komischen Oper mit „Cendrillon“ – und rettete mit seiner hochemotionalen Geschichte vom Ballettmädchen mit dem gebrochenen Bein nicht nur eine selten gespielte Massenet-Oper fürs Repertoire, sondern empfahl sich auch für weitere Aufgaben. Mehr davon! Daneben arbeitete die Komische Oper hart an ihrem Ruf, nicht nur das verwegendste, sondern auch das unterhaltsamste Berliner Haus zu sein. Das klappte mit „My Fair Lady“: Andreas Homoki nimmt – bei seinem ersten Ausflug zurück ans alte Haus – die Geschichte als Geschlechter- und Klassenkampf erfreulich ernst, ohne auf große Shownummern und prachtvolle Kostüme zu verzichten. Die Spoliansky-Revue „Heute Nacht oder nie“ mit den Geschwistern Pfister allerdings kann dem Kulthit „Clivia“ in ähnlicher Besetzung nicht das Wasser reichen.

Während die Deutsche Oper sich vor allem mit Regisseuren vorwagte, die in der Tendenz als radikal gelten und damit durchaus auch gewann – etwa mit Benedikt von Peters „Aida“ –, sparte sich die Staatsoper große Flops, aber auch prägnante Regiezugriffe. Hier regiert klar das Primat der Musik, oft auf beeindruckendem Niveau, für das Daniel Barenboim wie kein zweiter Orchesterchef steht. In „Juliette“ allerdings konnte man auch hier die perfekte Verschmelzung von Musik und Szene erleben. Claus Guth erwies sich bei Bohuslav Martinůs faszinierendem Werk (das unbedingt öfter gespielt werden sollte) mit seinem kafkaesken Türenlabyrinth in Höchstform. Rolando Villazon hat zwar unüberhörbar ein Problem mit der hohen Lage. Aber wie ungeschützt er sich vokal und darstellerisch mit jeder Faser in die Riesenpartie eines Getriebenen warf, machte jeden wegrutschenden Ton wett.

Zu den Höhepunkten gehörte auch die Neue Musik. Eigentlich selbstverständlich, dass große Häuser wie die Berliner das Wagnis eingehen, sich damit die Reihen leerzuspielen. Aber in Zeiten, in denen alle auf die Auslastungszahlen schielen, gehört doch Mut dazu – man könnte solche Experimente ja ganz auf Werkstatt und Tischlerei abschieben. Als echte Kraftwerke der Gefühle erwiesen sich dabei sowohl Salvatore Sciarrinos „Luci mie traditrici“ an der Staatsoper als auch HK Grubers „Geschichten aus dem Wiener Wald“ an der Komischen Oper, beide mit satten Angeboten an die Regie. Das sind Werke, die bleiben werden – gerade weil sie sich als Musik-Theater im besten Sinne erweisen.

Unterm Strich war es eine gute Saison, auch wenn (oder: weil) es wenig große Überraschungen gab. Schließlich sind die Positionen und Personen bekannt. Der größte Trumpf der Komischen Oper heißt Barrie Kosky. Hier pulsiert das Herz des Musiktheaters gerade am heftigsten. Weil sich das Haus zudem locker, sinnlich und unelitär präsentiert, kommen auch Leute, die sich sonst nicht in die Oper trauen. Die Staatsoper hat dank Daniel Barenboim zu Recht einen exzellenten Ruf. Welcher Berliner Kollege könnte ihm gerade das Wasser reichen in Sachen Vielfältigkeit und Niveau? Mozart, Verdi, Wagner, Martinů – das waren auch in dieser Spielzeit jedes Mal Glückserlebnisse. Dagegen wirkt die Deutsche Oper manchmal wie ein schwerfälliger Tanker. Immerhin hat auch sie längst ihre Identität wiedergefunden: Zwar war bei der Meyerbeer-Wiederbelebung „Vasco da Gama“ noch Luft nach oben, dennoch ist diese Art von Repertoire-Wiedergewinnung von unschätzbarem Wert. Und dann sind da noch die Sänger, die diese Saison prägten, neben den Genannten Tatiana Serjan, Anna Prohaska, Katharine Mehrling, Catherine Naglestad, Michael Volle. Wenig Grund zu Meckern also, sondern für Neugier auf die nächste Spielzeit.