Opernkritik: Aneinander vorbeigesungen

Opernkritik: Aneinander vorbeigesungen

„Manon Lescaut“ in Hollywood – in der Staatsopern-Inszenierung von Jürgen Flimm wird viel herumgestanden

Wie das wimmelt! Herren in Frack und Zylinder, Frauen in Karopullunder und Bubikopf, Clowns, Nonnen, Hasenmasken und Halskrausen, dazwischen rennen Männer in Arbeitsoveralls und Schiebermützen umher. Was wirkt, als hätten die Ausstatter den Fundus der Staatsoper geplündert, ist ein Filmset im Hollywood der frühen 30er Jahre: Scheinwerfer, Kameras, Tonangeln, mittendrin ein rotes, schnittiges Cabrio. Hier kann man über Nacht zum Star werden. Also ist unter denen, die sich casten lassen wollen, auch Manon, in der Hoffnung darauf, entdeckt zu werden. Wird sie auch – allerdings will der Produzent sie nicht unbedingt für den nächsten Film, sondern fürs Bett.

„Manon Lescaut“ in Hollywood – das ist die zentrale Idee in Jürgen Flimms Inszenierung von Giacomo Puccinis Durchbruchsoper von 1893. Puccini erzählt – frei nach dem Roman des Abbé Prévost, einem Skandalroman aus der Zeit Ludwig XV. – davon, wie Manon zwischen dem mittellosen Studenten Des Grieux und dem reichen, alten Steuerpächter Geronte de Ravoir pendelt und sich nicht so richtig zwischen Geld und Liebe entscheiden kann. Am Ende stirbt sie todkrank in der Verbannung.

An der Staatsoper macht Flimm aus diesen operntypischen Charakteren – kokette Schönheit mit glühendem Kern, junger, aufrichtiger, überforderter Mann, alter rachsüchtiger Geldsack – Charaktere, die Michel Hazanavicius’ stummen Oscar-Erfolg „The Artist“ von 2011 entsprungen sein könnten: de Ravoir ist Filmproduzent, Manon ein mögliches Starlet, und des Grieux schaut so melancholisch über sein Menjou-Bärtchen wie im Stummfilm. George Tsypin hat dazu eine Bühne zwischen unterkühltem Art déco und Backstage-Tristesse gebaut, Ursula Kudrna sich einmal durch den Fundus zitiert, Manon dabei in ein kostbares Kleid mit weißer Fuchsstola gesteckt.

Die Frage ist nur: Was bringt uns das, neben der Chance, statt Interieurs des Ancien Régimes hier die 30er Jahre vorgeführt zu bekommen, aber auch Verweise auf andere Hollywood-Epochen? Immer wieder zeigt Flimm schwarz-weiße Einblendungen: Küsse leidender Leinwandpaare, die die tödlich endende Liebe vorwegnehmen. Ablegende Dampfer, die auf die Abschiebung nach Amerika verweisen. Schließlich auch die um Arbeit anstehenden Opfer der Weltwirtschaftskrise 1929 als Folie des Elends, in das die Helden hier geraten, schließlich geht ihnen zuerst das Geld aus, bevor Manon festgenommen wird.

Klar: Flimm will die Traumfabrik zeigen, die oft genug Träume enttäuscht. Er will das böse, kapitalistische Amerika mit seinen Automaten, den alles zumüllenden Getränkebechern, seiner Edward-Hopper-Einsamkeit, seiner Oberflächlichkeit, um das Leid der Helden gesellschaftspolitisch zu verorten. Kein Wunder, dass den Petersburgern die Koproduktion, die zuerst am Mikhailovsky Theater herauskam, gefallen hat.

Den Motivationen der Handelnden aber fügt das alles nichts hinzu, erklärt nichts, wirkt eher aufgesetzt, weil das Libretto und teilweise auch die Musik etwas völlig anderes erzählen. Wenn im ersten Akt die Postkutsche im Orchestergraben derart plastisch heranrauscht, dass man sie auf der Bühne zu sehen meint, dann ist es schlicht ärgerlich, dass Manon längst anwesend ist und alle ziemlich statisch herumstehen. Überhaupt die Statik: Immerzu wird gesessen, gestanden, aneinander vorbeigesungen. Puccinis Musik ist ja eine höchst gestische. Aber jenseits des Filmsets bewegt sich hier wenig.

Das erweist sich auch als Problem für Anna Nechaeva und Riccardo Massi. Nechaeva ist eigentlich eine, die alles für eine Manon mitbringt – Anmut, Schönheit, Koketterie. Vor allem aber eine Stimme, in der alles für die große Leidenschaft steckt, ein (zuweilen etwas starkes) Vibrato, ein Leuchten, mühelose Höhen. Nur wird das bei ihr nie existenziell. Ähnlich Massis junger Lover: Strahlkraft, Schmelz, Spitzentöne – toll, wie er aus der Brustlage heraus die Kopfstimme anzapft, ohne das ein Intensitätsunterschied zu hören ist.

Und doch wird ihre Leidenschaft, ihre abgrundtiefe Verzweiflung, ihre Todesangst nie spürbar. Wenn diese Puccini-Oper in all ihrer musikalischen Raffinesse und motivischen Vernetzung von etwas lebt, dann doch von bedingungslosen Emotionen! Hier wird gelitten, mit- und aneinander, auch an sich selbst, dass alles drum herum verblasst. Diese Emotionen aber bleiben auf der Bühne so clean und abgezirkelt wie im Graben, wo Mikhail Tatarnikov die Staatskapelle eher verhalten durch die glutbrodelnden Untiefen der Partitur lotst. Selbst wenn das Orchester auftrumpft (und dann auch keine Rücksicht auf die Sänger nimmt), hat man das Gefühl, dass es sich im Mezzoforte gemütlich macht.

So wie der ganze Abend, der in mittlerer Gefühlslage vor sich hinplätschert und nichts zu wollen scheint, außer eine Geschichte zu bebildern. Besonders deutlich wird das in den beiden anderen großen Männerrollen. Wer ist dieser Filmproduzent Geronte de Revoir? Man erfährt es bei Franz Hawlata nicht, ein grauer Herr mit eher müden Machtgesten, der sich vokal nur im Angesicht des Verrats aus der Reserve locken lässt. Und wer ist Lescaut, Manons Bruder? Er spielt ja immerfort Schicksal, bringt die Liebenden auseinander und wieder zusammen. Bei Flimm verschachert er am Anfang sogar seine Schwester und begleitet das Paar mit einer Handkamera noch bis in die Wüste. Eine Schlüsselfigur also. Roman Trekel greift mit harter Film-noir-Miene und ebenso hartem Bariton zum Flachmann. Aber erklärt das sein widersprüchliches Handeln?

So zitiert sich Flimm zwar durch Glanz und Elend der Traumfabrik, zu deren Symbol hier das rote Cabrio wird, von dem am Ende nur noch eine ausgeweidete Schrottkarosse bleibt. Das elementarste Filmgebot aber berücksichtigt er nicht: Du sollst nicht langweilen.