Essay: Bloß nicht auffallen!

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Cripping up – Was problematisch daran ist, wenn Schauspieler ohne Behinderung Rollen mit Behinderung spielen

Wer hat Angst vor „Cripping up“? Offensichtlich niemand. „Cripping up“, auch „Disability Drag“ genannt, kommt aus dem Englischen und bezeichnet die Tatsache, dass nicht-behinderte Schauspieler*innen Menschen mit Behinderung spielen beziehungsweise sich entsprechend verkleiden und damit meist besonders viel Applaus, Anerkennung, Preise einheimsen, weil es offenbar als gänzlich extremer, exzentrischer Rollenwechsel angesehen wird. Laut einer Studie von 2012 spielten 16 Prozent aller Oscar-Gewinner Rollen mit einer Behinderung oder psychischen Krankheit. „Cripping up“ ist gewissermaßen das Pendant zum „Blackfacing“ und rückt so in den Fokus der Repräsentationsdebatten, die das Theater seit nunmehr sieben Jahren umtreiben.

Karikatur eines Menschen

Dabei steht diese Kritik im deutschsprachigen Gebiet noch am Anfang. Als 2014 Alain Platels Tanztheaterabend „Tauberbach“ Plagiat und Rassismus vorgeworfen wurden, thematisierte niemand, dass da eine nicht-behinderte Schauspielerin eine Frau mit einer psychischen Behinderung spielt. Als 2015 Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne Shakespeares „Richard III.“ inszenierte, war den Kritiken allenfalls eine Randnotiz wert, dass Lars Eidinger die Karikatur eines Menschen mit Körperbehinderung spielt. Nicht mal diese Marginalia gab es, als im Februar an den Berliner Sophiensälen Thorsten Lensings Digest-Version von „Unendlicher Spaß“ herauskam, in der André Jung den körperbehinderten Mario spielt – ein paar Klebestreifen genügen, um sein Gesicht zu entstellen.

In Großbritannien ist die Diskussion dagegen einen kleinen Schritt weiter: Als Daniel Radcliffe 2013 in London die Titelrolle in „The Cripple of Inishmaan“ übernahm, fragte die einflussreiche Kritikerin Lyn Gardner, warum Kritiker*innen auf eine Produktion mit einem weißen Othello einprügeln würden, es aber problemlos akzeptierten, wenn ein nicht-behinderter Schauspieler eine Rolle mit Behinderung spielt. Die These, dass Cripping up das Blacking up des 21. Jahrhunderts ist, vertritt die Autorin und Aktivistin Kaite O’Reilly übrigens schon seit 2002. Nur hat lange kaum jemand zugehört.

Repräsentation in der Krise

Die aktuelle Repräsentationspolitik scheint gerade generell in der Krise, in der Demokratie wie im Theater: Fühlen sich weite Teile der möglichen Wähler*innen, der möglichen Zuschauer*innen noch vertreten? Im Theater hat es bislang einzig die besagte „Blackfacing“-Debatte zu Folgen gebracht: Wer sich heute noch dafür entscheidet, eine*n Schauspieler*in schwarz anzumalen, muss eine äußerst stichfeste Begründung dafür haben – oder sich wie zuletzt das Theater Bremen oder soeben Michael Thalheimer mit Verdis „Otello“ an der Deutschen Oper Duisburg mit Rassismusvorwürfen auseinandersetzen. Zugleich zeigen Häuser wie das Gorki Theater, das Ballhaus Naunynstraße oder Produktionen wie Anta Helena Reckes „Mittelreich“-Schwarzkopie, dass es genügend schwarze Schauspieler*innen gibt, die komplexe Rollen stemmen können – auch jenseits des notorischen „afrikanischen Freunds“ à la Gbatokai in „Das Fest“.

Hinter Cripping up stehen drei fundamentale Zumutungen: 1. Die Deutungshoheit darüber, wie Menschen mit Behinderung präsentiert werden, liegt bei nicht-behinderten Künstler*innen. 2. Das ist deshalb so bedeutsam, weil die Geschichte der westlichen Gesellschaft, Menschen mit Behinderung aus- und wegzuschließen, sie zugleich aber zu Ausstellungsobjekten zu machen, lang und bitter ist. 3. Cripping up verweist wie Blackfacing auf eine Leerstelle: In den Stadttheatern wie in der freien Szene wird immer noch viel zu wenig mit Theatermacher*innen mit Behinderung zusammengearbeitet.

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