Theaterkritik: Keine Absicht, nur Tourette

Theaterkritik: Keine Absicht, nur Tourette

„Chinchilla Arschloch, waswas“ – Schauspiel Frankfurt, Mousonturm – Im Bockenheimer Depot in Frankfurt fragt Helgard Haug von Rimini Protokoll, wie stark das Theater Kontrolle abgeben darf

Ja, es ist möglich, die Tourette-Tics zu unterdrücken. Benjamin Jürgens demonstriert das einmal: Seine Stimme wird dünn, klingt gepresst, seine Mimik wirkt steif, unnatürlich, als hielte er die Luft an, seine Augen treten hervor. Lange hält er die Qual nicht durch – es ist, als ob er wieder atmen dürfte.

Tourette kann aber auch ziemlich witzig sein. Als im letzten Drittel des Abends der hessische SPD-Landtagsabgeordnete Bijan Kaffenberger auftritt und seine Bedingungen dafür aufzählt, bei diesem Abend mitzumachen, nennt er als ersten Punkt: „Ich will das Honorar spenden.“ – „Affäre“ ergänzt Christian Hempel von hinten intuitiv und schneller, als man denken kann. Ein Brüller!

Die Nervenkrankheit Tourette zwingt Menschen dazu, Bewegungen auszuführen und Geräusche zu machen, über die sie keine Kontrolle besitzen – Tics. Aber sie befähigt sie auch zu rasantem Denken, zu erhöhter Kreativität. Zugleich fühlen sie sich oft von Reizen überfordert, werden von selbstverständlichsten Dingen getriggert – Unordnung, Lautstärke, Überangebot. Einmal erzählt Jürgens von der Qual, ins Theater zu gehen: Wie er schon für die Anreise ewig brauchte, weil ihm die Bahnen zu voll waren, wie ihn das Foyer-Gewimmel überforderte. Wie ihm, trotz aller Konzentration und Anspannung, in der Aufführung dann doch irgendwann „So ein Blödsinn!“ rausrutschte, der Schauspieler aus der Rolle fiel, sich im Text verhedderte. In der Pause ist Jürgens gegangen.

Jetzt steht er zusammen mit Hempel, Kaffenberger und Barbara Morgenstern auf der Bühne des Bockenheimer Depots. Gemeinsam mit Helgard Haug von Rimini-Protokoll haben sie den Abend „Chinchilla Arschloch, waswas. Nachrichten aus dem Zwischenhirn“ entwickelt, eine Koproduktion von Schauspiel Frankfurt und Künstlerhaus Mousonturm. Über Tourette. Aber auch über das Theater, seine Limitierungen und Möglichkeiten. Wer schaut hier wen an? Wer ist warum die Attraktion? Lässt sich die Zuschauer-Perspektive umdrehen?

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