Theaterkritik: Hat er sie vergewaltigt?

Theaterkritik: Hat er sie vergewaltigt?

Nichts, was uns passiert – Stadttheater Gießen – Sandra Strunz inszeniert Bettina Wilperts Roman als konzentrierte Zwei-Personen-Befragung

Was war das: einvernehmlicher Sex? Ein Missverständnis? Eine Vergewaltigung? Anna und Jonas sind lose befreundet, haben auch schon mal miteinander geschlafen, als es nach einer Geburtstagsparty mit viel Alkohol zu einem Ereignis kommt, das beide sehr unterschiedlich erleben. Sie sagt: Er hat mich festgehalten, ich habe mich gewehrt, er ist trotzdem in mich eingedrungen. Er sagt: Ich kann sie gar nicht vergewaltigt haben, ich habe doch ein Kondom benutzt, und als ich sie gefragt habe, ob es ihr gefällt, hat sie genickt.

Das Spannende an Bettina Wilperts 2018 erschienenem Roman „Nichts, was uns passiert“ ist, dass er eine Grauzone auslotet, die er bis zuletzt nicht verlässt. Eine unbenannte Erzählerinstanz lässt sich die jeweiligen Versionen der Geschichte erzählen, sammelt dabei Indizien und Zeugenaussagen, ohne zu urteilen. Dass sie in Leipzigs linker akademischer Szene spielt – er ist Doktorand, sie gerade fertig mit der Uni – macht die Sache nicht einfacher: Kann dieser brave Schluffi, der so gerne über russische Literatur redet, ein Vergewaltiger sein? Und ist diese junge Frau, die zwischen spielerischer und wütender Provokation pendelt, nicht vielleicht wirklich in der Lage, aus einem Missverständnis eine Katastrophe für gleich zwei zu machen?

Die Frage bleibt auch in Sandra Strunz‚ Gießener Uraufführung erst einmal offen. Strunz und ihre Dramaturgin Carola Schiefke haben das Knappe, Lakonische des Romans in eine konzentrierte Fassung überführt, in der die zwei Schauspieler Johanna Malecki und Stephan Hirschpointner fließend zwischen Erzählung und Figurensprache wechseln. Die gegenseitige Irritation, die merkwürdige Anziehungskraft, dieselbe Wellenlänge macht sie mit etwas ungelenken Choreografien zwischen den beiden sichtbar. Im kargen Raum zwischen den Zuschauerreihen der Studiobühne stehen zwei Tische, Stühle, Mikros, an den Wänden hängt zudem das Skript der Stückfassung, von oben leuchten verhalten Neonröhren. Das alles erinnert in seiner sparsamen Konzentration ebenso wie manch überbordende Emotionen an Klassenzimmerstücke.

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