Theaterkritik: Kann man Kleists Geschichte neu und besser erzählen?
Der Klassiker jetzt auch ohne Rassismus: Am Gorki inszeniert Sebastian Nübling Necati Öziris „Die Verlobung in St. Domingo – Ein Widerspruch“
Schattenrisse bewegen sich auf der Leinwand. Allerliebst spreizen sie die Finger beim Kaffeetrinken; Tüll und Spitzen wirken wie eine Scherenschnitt-Illustration aus der Kleist-Zeit. Dabei ist das Schwarzweiß hier real – hinter dem Bildschirm auf der Bühne agieren echte Schauspieler. Der Clou: Ob sie schwarz oder weiß sind, sieht man nicht.
So zeigt Regisseur Sebastian Nübling am Gorki Theater etliche Spielszenen in Necati Öziris „Die Verlobung in St. Domingo – Ein Widerspruch“. Der Widerspruch bezieht sich auf das Menschen- und Weltbild in Heinrich von Kleists gleichnamiger Novelle von 1811, das der Zeit entsprechend ziemlich rassistisch ist: Die Schrecken der Revolution auf Haiti, bei der die Schwarzen die weißen Plantagenbesitzer vertrieben, pinselt er als barbarisches Horrorszenario aus, äußert Verständnis für die Wut der aufständischen Ex-Sklaven gegen ihre Unterdrücker, kann sich aber nicht vorstellen, dass die Weißen ebenso grausam waren.
Aber auch die Details der Geschichte hinterfragt Öziri: Der Schweizer Gustav verliebt sich in Toni, deren Vater Franzose war und deren schwarze Mutter die Weißen hasst; Toni versucht ihn in den Wirren des Aufstands zu retten, eine Verkettung unglücklicher Umstände endet tödlich. Sie opfert sich wie so viele Frauen der Literaturgeschichte. Was sind das für Stereotype von Schwarz und Weiß, Mann und Frau, Revolution und Frieden? Und wie ließe sich die Geschichte gewaltfrei erzählen?
Immer neue Varianten probt die fünfköpfige Truppe durch, die anfangs lässig wie Revuestars auf die Bühne tänzelt und einen angenehmen Rhythmus herstellt, der regelmäßig in Lärm eskaliert. Sie schlüpfen in Rollen und Kostüme, um sie kritisch zu befragen, vor allem Kenda Hmeidan, die aus der naiven Toni eine äußerst selbstbewusste junge Frau macht und Maryam Abu Khaled, bei der die böse alte Mutter als lebenskluge Macherin mit langem Leidensweg sichtbar wird.
Schön: Man versteht die Geschichte, das Anliegen, auch wenn man Kleist nicht gelesen hat. Manches zerfasert beim Versuch, möglichst alle Aspekte zu beleuchten; eine Impro-Nummer um ein Lied von Nina Simone wirkt lang und ohne Pointe. Dafür wird man mit vielen klugen Beobachtungen und Miniaturen entschädigt. Die Versuche etwa, die Geschichte ohne Tote zu erzählen, bleiben ergebnislos. Am Ende entwirft Öziri eine Verfassung für ein neues, gleichberechtigtes Zusammenleben in einem Staat ohne weiße Dominanz. Auch sie ist imperfekt. Aber sie nährt die Hoffnung, dass andere sie vollkommener machen werden.