Theaterkritik: Das Internet als Hort des Bösen

Theaterkritik: Das Internet als Hort des Bösen

Regisseur Kay Voges gilt als Vordenker der digitalen Möglichkeiten für das Theater. Jetzt zeigt er sich an der Volksbühne überraschend pessimistisch.

Das Internet: unendliche Weiten, unendliche Möglichkeiten. Wir schreiben das Jahr 1996, als John Perry Barlow die ­„Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ verfasst. Das Netz feiert er darin als „neue Heimat des Geistes“, als einen globalen, sozialen Raum „gänzlich unabhängig von der Tyrannei“ mit eigenem Gesellschaftsvertrag, frei jeder staatlichen Kontrolle.

Über die plane Bühnenwand flackern dazu Bilder einer zunehmend außer Kontrolle geratenden Feiergemeinde, die Bildschirme in den Pool wirft und zugekokst die Sätze vernuschelt. Bald kippt die lässige Feierstimmung in SM-Sex, Gewalt, Kontrollverlust.

Die Party ist vorbei, sagt Kay Voges in „Don’t be evil.“ an der Volksbühne. Ausgerechnet jener Theaterregisseur, der sich mit am Weitesten vorgewagt hat in virtuelle Räume, rechnet jetzt mit dem Internet als Hort des Bösen ab. Schon der Titel ist eine ironische Geste: Er zitiert den Wahlspruch Googles, von dem sich der Suchmaschinenriese mittlerweile verabschiedet hat.

Sei nicht böse? Das wirkt in Zeiten von aggressiver Werbung und Hasskommentaren befremdlich naiv, ja zynisch. Schließlich hat Google mit seiner Marktmacht und mit seinem Sortier-Algorithmus großen Einfluss darauf, was wir im Internet zu sehen bekommen und wie wir es wahrnehmen.

Voges schlägt in „Don’t be evil.“ einen großen Bogen von Thomas Mann und Bertolt Brecht bis heute. Brecht forderte in „Der Rundfunk als Kommunikationsapparat“, Radio müsse nicht nur ausstrahlen, sondern auch empfangen können, dann würde alles besser. Wie falsch Brecht damit lag, beweist Voges nun in zwei Stunden mit einer gewaltigen Bilderflut.

Netz-Phänomene wie Pepe der Frosch und Cecil, der erschossene Löwe, tapern live und virtuell über die Bühne, für die Michael Sieberock-Serafimowitsch einen quadratischen Guckkasten gebaut hat, der sich öffnet und schließt. Links und rechts vergrößern die Aufnahmen der Live-Kamera das Geschehen wie bei einem Popkonzert.

So richtig menschlich wirken die Schauspieler nur, wenn sie den Kasten Richtung Rampe verlassen. Dann hört man ihre Stimmen plötzlich unverstärkt, merkt man: Die haben ja eine Aura! Hinreißend die Szene, in der Julia Schubert als Schauspielerin ihre eigene Vergrößerung beschimpft: „Ich kann nicht groß spielen, wenn ich schon groß bin. Wenn ich auf der Leinwand nah bin, wie soll ich dann den Leuten im Saal nah sein?“

Gute Frage. Schließlich machen Youtube und Co. Kleines groß und Großes klein. Auf der Hinterbühne steht der Bühnenkasten noch mal als Miniausgabe. Was dort passiert, wird als (oft vorproduzierter) Film von Voxi Bärenklau auf die geschlossene Bühne projiziert. Das Netz ist nicht eben nicht der eine Raum, sondern besteht aus unendlich vielen parallelen Echokammern.

Von deren Möglichkeiten hatte Voges in „Die Parallelwelt“ am Berliner Ensemble und seinem Schauspiel Dortmund erzählt, im Rausch der Gigabytemöglichkeiten aber den Faden verloren. Dass es auch in „Don’t be evil.“ mitunter drunter und drüber geht, liegt am Gegenstand. In unzähligen Kästchen wird gegrabbelt und gebrabbelt, dass einem Augen und Ohren rauschen.

Alles ist Hass, Sex, Gewalt, ein rechtsfreier Raum. Einmal duellieren sich alle acht Schauspieler in Cowboykluft mit Worten und Waffen. Niemand hat recht, aber alle haben eine Meinung. Das trifft viele Auseinandersetzungen in Kommentarspalten und Diskussionsforen ganz gut. Dennoch sehnt man sich in solchen Plappermomenten nach der Gedankenschärfe eines René Pollesch.

Ja, es gibt Szenen, die die Abgründe des Netzes kabarettistisch genau treffen. Etwa wenn Vanessa Loibl als Youtuberin den schlimmen Text ihres einzigen Hits vorliest, als wäre das Poesie. Oder wenn Andreas Beck als Internetsheriff davon berichtet, wie die Koran-Verbrenn-Aktion eines einzelnen religiösen Spinners in den USA nur dank des Netzes weltweit wahrgenommen wurde und Morde zur Folge hatte.

Das Problem des Abends allerdings ist, dass diese Bilderflut schnell ermüdet. Und was ist mit den Möglichkeiten, die das Netz immer noch bietet? Will uns der Erzählungsstrang mit den beiden Teenies, die sich vom Livestreaming ihres Bonnie-&-Clyde-Lebens zu tödlichen Dummheiten verführen lassen, wirklich sagen: Finger weg vom Netz, das kann böse enden?

Auch technisch ist Voges’ Projekt von gestern. In seiner Radio-Rede klettert Uwe Schmieder als Brecht durch die Parkettreihen. Danach wirkt der Abend, als zappe man durchs Fernsehprogramm. Ja, der Cyberspace braucht Regeln. Aber er braucht eben auch Visionen. In Dortmund, wo Voges das Schauspiel leitet, hat er eine Akademie für Theater und Digitalität ins Leben gerufen. Wenn es nach diesem Abend geht, müsste man sie gleich wieder schließen.