Opernkritik: Kampf zweier Alphamänner

Opernkritik: Kampf zweier Alphamänner

Mit 200 Akteuren: Die Komische Oper zeigt Hans Werner Henzes Tragödie „The Bassarids“ in der Regie von Barrie Kosky.

Was für eine Musik! Welten prallen aufeinander im riesigen Orchester, das nicht nur im Graben sitzt, sondern auch links und rechts auf der Bühne, vereinzelt auch im Parkett und in den Rängen: Blechklanglawinen rollen gegen spitze Holzblas-Töne, mischen sich mit lasziven Streichern. Plötzlich Stille. In sie hinein singt eine Tenorstimme, so sanft, weich, verführerisch, dass man versteht: Ihr muss man folgen, was auch immer geschieht.

Die Stimme gehört Dionysos, dem jungen Gott, der nach Theben kommt, um sich an deren Bewohnern zu rächen, weil sie seine Göttlichkeit nicht anerkennen. So hat es Euripdes aufgeschrieben in seinen „Bakchen“. Die werden gerade im Sprechtheater oft inszeniert, weil sich im Ringen von Dionysos mit Thebens König Pentheus schön die Mechanismen der Macht zeigen lassen: Wie weit kommt man mit reiner Vernunft? Wann kippt sie in Selbstüberschätzung? Wie viel Entgrenzung, wie viel Irrationales sind wir bereit zu akzeptieren? Oder steckt hinter Dionysos gar ein Volksverführer?

Euripides nahm den Gott ernst, schließlich waren antike Theateraufführungen Rituale zu seinen Ehren. Wystan Hugh Auden und Chester Kallman, die Librettisten von Hans Werner Henzes 1966 uraufgeführten Oper „The Bassarids“ (Die Bassariden), aber zeigen zwei Machtmenschen im Ringen miteinander. Wenn am Ende Pentheus‘ Mutter Argaue ihren Sohn im Wahn und Rausch getötet hat, erkennt sie: „Starke Götter sind nicht gut“, während der Chor in seinem Gottespreis ziemlich christlich klingt. Das ist, natürlich, ein Kommentar: Henze folgt dem kritischen Blick seiner Librettisten auf den Mythos wie auf Religionen überhaupt, wenn er musikalisch zwei Alphatiere aufeinander losgehen lässt, zwischen denen die Menschen zerrieben werden.

Er folgt dabei der Logik einer Sinfonie mit Sonatenhauptsatzform, Scherzo, Adagio, Passacaglia, reißt allerdings neben dramatisch hochgespannten Szenen auch ein paar Energielöcher in die Handlung. Zumal die pausenlosen zweieinhalb Stunden durch das eingeschobene Intermezzo etwas lang werden, eine Art Operette über die Macht des Eros und das Lob des Teilens.

Hausherr Barrie Kosky hat ein Herz für die zentralen Werke des 20. Jahrhunderts. Mit Ligetys „Le Grand Macabre“ schlug er einst fulminant an der Komischen Oper auf; seine Inszenierung von Arnold Schönbergs „Moses und Aaron“ wurde zu einem Triumph, weil er aus der gedankenschweren Oper eine Sinnlichkeit kitzelte, die man kaum vermutet hätte.

Sinnlich ist „The Bassarids“ (die auf Englisch gesungen werden) allerdings erst einmal nur die Musik. Ausstatterin Katrin Lea Tag kombiniert in ihrem strengen Kasten aus hellem Holz Zuschauerraum und Bühne eines antiken Theaters: Stufen führen zu einem schmalen Zugang, vor dem Orchestergraben gibt es zudem einen Steg. Oft bevölkert der schwarz gewandete Chor mit bleichen Gesichtern die von den Bläsern flankierten Treppen, hockt dort erwartungsvoll, gefangen in einer rituellen Choreografie. Sie bricht auf, sobald Dionysos ihnen die Köpfe und Herzen verdreht: Jetzt federn, pulsen, klatschen sie. Zunehmend geraten auch die Tänzer in Bewegung, wobei sich hier die Grenzen von Koskys Leib-Choreograf Otto Pichler zeigen: Ein bisschen mehr Mordern-Dance-Wildheit würde ihren abgezirkelten Gesten und Revueanleihen ganz guttun.

Wenn Dionysos und Pentheus aufeinandertreffen, beweist Kosky wieder einmal, welch ein Meister der Personenführung er ist. Zumal bei diesen Sängerdarstellern: Sean Panikkar, der den Dionysos schon 2018 bei den Salzburger Festspielen sang, besitzt einen betörend weichen Tenor, der jederzeit an Kraft zulegen kann. Dazu sieht er auch noch aus wie ein Jüngling, spaziert barfüßig über die Bühne und provoziert so seinen Gegenspieler Pentheus, der nicht erkennen will, mit wem er es zu tun hat. Günter Papendells jungem, sehr selbstbewussten König zerbröselt trotz Strenge und Gewalt die Macht. Sein Bariton aber bleibt herrschaftlich in allen Schattierungen, vital, voller Kraft und Erotik. Kein Wunder, dass der Kampf der beiden Alphamänner im Kuss mündet. Schließlich sind sie zwei Seiten einer Medaille, was Henze so auch komponiert.

Die Leidtragenden sind die anderen, der erst taumelnde, dann entsetzte Chor, der hier – erweitert um das Vocalconsort Berlin – beeindruckend Klangfarben und emotionale Ausnahmezustände balanciert. Aber auch Pentheus‘ Mutter Argaue, die erst über seinen Überresten erkennt, wenn sie da ermordet hat. Tanja Ariane Baumgartner lässt ihren Mezzowahnsinn funkeln, bevor sie dann schön eklig in Haaren und Zähnen herumpult. Noch zerrissener ist Beroe, die Amme, die bei Margarita Nekrasova mütterlich klingt und sich beiden Männern verpflichtet fühlt.

All das koordiniert Vladimir Jurowski am Pult mit einer bewunderungswürdig gespannten Lässigkeit. Nach ein paar Konzentrationsschwächen zu Beginn steigert sich das Orchester der Komischen Oper in einen Klangrausch, der die Details sucht, spätromantische Klangfarben auskostet, sich Hals über Kopf in Latin-Rythmen und griechische Volkstänze stürzt, um dann wieder katastrophische Klangkluster zu schichten. Es gibt Momente, da wirkt das Haus zu klein für diese Wucht, halb Machtdemonstration, halb Verführung. Und doch kann man sich ihr nicht entziehen.