Newsletter: Was bald fehlt

Newsletter: Was bald fehlt

Newsletter der nachtkritik.de-Redaktion vom 1. Oktober 2020: Betriebssimulation +++ Kritik-Krise +++ Vereinigungs-Jubiläum

Guten Morgen,
 
was erleben wir gerade: einen ganz normalen Betrieb mit ein paar Extraregeln? Oder eine Simulation von Theater? In jedem Fall: eine Spielzeit auf Probe. Viele Häuser schalten ihre Termine erst kurzfristig frei, Vorstellungen werden wegen Corona-Verdachtsfällen abgesagt, Besucher*innen bleiben auf Abstand und werden nach der Vorstellung sofort hinauskomplimentiert. Wenn’s regnet oder stürmt, fällt das Gespräch über die Kunst auf jeden Fall ins Wasser.

Die New Yorker MET hat gerade die gesamte Spielzeit abgesagt. Hierzulande kämpft man tapfer gegen alle Widrigkeiten an: Wer im Parkett vorne sitzt, hat den Vorteil, die gähnende Leere dahinter nicht wahrnehmen zu müssen. Kuschliger, ursprünglicher fühlen sich oft die kleinen Abende an, in denen man aber auch mal unter sich bleibt: 20 Zuschauer*innen ergeben noch nicht mal eine Schulklasse. Auch die Menschen auf der Bühne erwecken immer wieder den Eindruck, in einer Art Generalprobenmodus zu spielen: bisschen unterspannt, undeutlich, skizziert. Liegt das daran, dass die Energie aus dem Publikum fehlt? Wenn jetzt jemand lacht, klirrt es leise im großen Rund. Noch schlimmer: wenn jemand hustet! Was das alles für die Finanzen der Häuser bedeutet – man will es sich nicht ausmalen.  Wird es künftig zum Überlebensmodell, dass Dramatiker*innen sich dem Roman zuwenden wie jüngst Christoph Nußbaumeder? Das ist auf jeden Fall die krisenfestere Gattung.

Während die Häuser versuchen, den Betrieb und das Gesicht zu wahren, wirkt in der Medienlandschaft Corona als Brandbeschleuniger. Wir hier in der Redaktion merken seit Bestehen von nachtkritik.de beim Erstellen der Kritikenrundschauen, wie sich die Lage zuspitzt. Also dass es in manchen Städten nur noch eine Zeitung gibt, in der sich die Theaterkritik mitunter auf eine reine Beschreibung zurückzieht und eine Meinung hinterm Premierenapplaus versteckt. Oder eben, dass einst konkurrierende Blätter nun im gleichen Verlag erscheinen und plötzlich alle dieselbe Kritik bringen, wie es unser Kollege Thomas Rothschild am Beispiel von Stuttgart berichtet. Stuttgart, das Theatergeschichte geschrieben hat und nie Provinz sein wollte! Aber selbst in Berlin reduziert sich die Vielfalt: Im Sommer stellte das traditionsreiche Stadtmagazin Zitty seinen Betrieb ein. Das Blatt war wichtigster Partner der Freien Szene, über die die Tageszeitungen immer seltener berichten. Wo führt das hin? Zu Blogneugründungen von Theaterverbänden, die so das Gespräch über ihre Produktionen selbst organisieren? Zu mehr Engagement aller in den sozialen Medien? Oder verstummt dieses Gespräch? Und ist ohne diesen Austausch Theater eigentlich noch mehr als Kollektivbeschallung?

Zum Betriebsgedröhn, das oft genug klingt, als gäbe es Corona nicht, gehört der Lärm um die Kandidatur von Lisa Jopt fürs Präsidium der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA). Ist der Umstand, dass die führende Vertreterin (und Mitbegründerin) des ensemble-netzwerks jetzt nach der Macht über eine oft als zahnloser Tiger wahrgenommene Mini-Gewerkschaft greift, eine Riesenchance für das künstlerische Personal oder Untergang des Tarifwesens? Das wird in der Kommentarspalte heiß diskutiert.

Bei den diesjährigen Nominierungen zum „Faust“-Preis fällt auf, dass als Schauspieler*innen nur Frauen genannt sind und bei den Musiktheaterregisseur*innen nur Männer. Und dass ein gesonderter Corona-Spezialpreis für innovative Netztheater-Experimente oder ähnliches – anders als bei dem österreichischen Pendant, den Nestroy-Preisen – fehlt. Dabei hatten doch gerade in der akuten Krise viele Theater eine ungeheure Energie und Kreativität entwickelt, auch unabhängig von ihrer Größe und Lage. So hat das Theaterhaus Jena die satirische Webserie „Urlaub in Deutschland“ produziert, die TOG Neubrandenburg/Neustrelitz einen beachtlichen Antike-Baukasten auf die Beine gestellt und die Münchner Theaterakademie „August Everding“ in „Wir sind noch einmal davongekommen“ eindrucksvoll die Möglichkeiten einer Zoom-Dramaturgie ausgelotet. Dafür hätte man wirklich eine Preisrubrik erfinden können!

Jubiläen fallen in diesem verrückten Corona-Jahr ein bisschen unter den Tisch. Wer (außer Igor Levit!) erinnert sich daran, dass eigentlich Beethoven rauf und runter dudeln sollte? Auch 30 Jahre deutsch-deutsche Wiedervereinigung drohen unterzugehen. Zumal man ja gar nicht so recht weiß, ob man das nun feiern, bloß neutral erinnern oder kritisieren soll. Wir versuchen auf nachtkritik.de alles drei – mit einer Textserie, die möglichst viele Perspektiven auf die Wiedervereinigung und ihre Auswirkungen auf das Theater wie die Gesellschaft abbilden will und die heute beginnt.

Den inoffiziellen Auftakt legt Esther Slevogts neue Kolumne über Christa Wolfs Geschichtsbild vor. Slevogt verteidigt darin Wolf gegenüber ihren Kritiker*innen: „Ihre Befunde über die leicht verführbaren und politisch unreifen Deutschen samt ihrer Unfähigkeit, ein Geschichtsbewusstsein zu entwickeln, waren ja auch westlich der Elbe gültig – wo die Leute schließlich nicht durch eigenes Verdienst in einer liberalen Demokratie leben durften, sondern weil sie nach 1945 schlicht das Glück gehabt hatten, dass ihr Wohnsitz in einer westlichen Besatzungszone lag.“ Es sind Figuren wie Christa Wolf, die uns lehren, voneinander zu lernen, indem wir einander zuhören. In Zeiten von Corona ist das wichtiger denn je.

In diesem Sinne: gute (Theater-) Gespräche wünscht
Georg Kasch