Theaterkritik: Etwas ist faul am Status Quo

Theaterkritik: Etwas ist faul am Status Quo

Challenge Accepted! Ich bin – Theater der Jungen Welt Leipzig – Jana Zöll hinterfragt auf Zoom in ihrer Lecture-Performance Kategorisierungen

Kategorien, Einordnungen, Schubladen? Helfen kaum weiter, wenn es um Menschen geht. Und doch labeln wir alle, jeden Tag: unterscheiden zwischen Mann und Frau, groß und klein, hässlich und schön. Nach eigener Erfahrung, Prägung, Bauchgefühl. Und dann passiert es, dass wir zum Beispiel Menschen mit Behinderung entweder als unzulänglich entwerten oder als Helden mystifizieren. Weil sie im Rollstuhl sitzen. Weil ihr Körper nicht der Norm entspricht. Und weil sie „trotzdem“ ihr Leben leben.

Fünfzig kleine Zoomfenster

Damit spielt Jana Zöll in ihrer Lecture Performance „Ich bin“. Der Abend für Jugendliche ab 16 entstand am Leipziger Theater der Jungen Welt in der neuen Reihe Challenge Accepted: Jede Spielzeit stellt sich ein:e Gastkünstler:in nach einer Woche Probenzeit in vier verschiedenen Aufführungen dem Publikum. Zöll, Performerin, Schauspielerin, Tänzerin, Autorin und Inklusionsberaterin, ist jetzt die erste.

Vor Jahren machte sie als Napoleon in Sebastian Hartmanns Krieg und Frieden Furore, ging später fest ans Staatstheater Darmstadt, wurde dort aber nie richtig glücklich. Jetzt arbeitet sie frei, hat am Tanzlabor Leipzig das Kollektiv Polymora Inc. mitgegründet und leitet am TdJW den inklusiven Kids Club mit an. Seit einigen Monaten per Kamera von ihrer Leipziger Wohnung aus, wegen Corona: Zöll ist Risikopatientin.

In ihrem Zimmer spielt jetzt auch „Ich bin“. Vom Raum sehen wir nur Ausschnitte, von ihr selbst lange nichts. Während in fünfzig kleinen Zoom-Fenstern Zuschauer:innen sitzen, hört man Zölls Stimme, sieht ihre Perspektive. Sie setzt sich mit Post-Its selbst zusammen, als weiß, europäisch, mit Abitur und Schauspielausbildung, als weiblich, ledig, hetero. Sie berichtet davon, wie sie von ihrer Umwelt schon früh aufgeteilt wurde: in einen defizitären Körper und einen Kopf, auf den sie sich, weil klug und „einigermaßen hübsch“, konzentrieren sollte. Sie berichtet davon, dass sie sich Weiblichkeit, Körperlichkeit, Erotik erst erarbeiten musste.

Fragen pfeifen um die Ohren

Über allem aber schwebte immer ein Trotzdem: Trotz ihrer Behinderung habe sie das und jenes erreicht, so das Narrativ. Womit das vermeintliche Defizit immer präsent blieb. Warum ist das so? Warum leiten wir aus visuell-körperlichen Faktoren Eigenschaften ab? Warum wird Nichtbehinderung als selbstverständliche Norm vorausgesetzt? Warum ist Behinderung, also ein „beeinträchtigter Körper“ (so Zöll) in einer nichtbarrierefreien Umgebung, nicht längst ein überflüssiges Wort, weil die Barrieren längst beseitigt wurden? Und warum sollen Kategorien wie Geschlecht, Hautfarbe und Behinderung aussagekräftiger sein über das Wesen eines Menschen als beispielsweise Sternzeichen?

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