Essay: Orpheus digital

Essay: Orpheus digital

Wie das zeitgenössische Musiktheater mit dem (notgedrungenen) Umzug ins Internet umgeht

Musiktheater in Zeiten sozialer Distanz – das klingt zunächst einmal nach sicherer Bank. Während sich das Sprechtheater erst an die Aufbereitung fürs Netz herantasten musste, hatte die Oper bei Pandemiebeginn schon einen guten Vorlauf. Mit Live-Übertragungen in Kinosäle und gelegentlichen Internet-Streams hatten die großen Häuser längst wertvolle Erfahrung gemacht. Zudem konnten viele von ihnen auf ein Archiv aus Hochglanzvideokonserven klassischer Inszenierungen zurückgreifen. Entsprechend wurde seit Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 rausgekloppt, was die Bestände hergaben. Sogar live gestreamte Premieren gab es etliche. Dass die Show hier derart ungebrochen weitergeht, liegt – neben ordentlicher Budgets und Sponsoren, die fürs Freitesten zahlen – auch am internationalen Reisezirkus: Wer die Sänger:innen und Dirigent:innen nicht zum verabredeten Zeitpunkt nutzt, hat danach kaum eine Chance, sie noch einmal für Endproben zusammenzukriegen.

Neues aus der Freien Szene

Wenn’s aber darum geht, Neues zu schaffen, also zeitgenössisches Musiktheater zu zeigen und nicht nur aufs bewährte Repertoire zu setzen, dann wird’s schwierig. Oper zählt ja spätestens seit den Aerosoluntersuchungen zur höheren Risikoklasse. Und anders als im Sprechtheater kann man nicht mit kleinen Formen wie Monolog oder Kammerspiel auf Distanz ausweichen.

Diese Ausgangslage macht es besonders für die Freie Szene schwierig. Sie ist der Innovationsmotor für zeitgenössisches Musiktheater – hier gibt es unendlich mehr Uraufführungen, lebende Komponist:innen und Experimente zu entdecken als an den Mehrsparten- und Opernhäusern, die sich meist mit dem klassisch-romantischen Repertoire beschäftigen. Allerdings ist diese Szene so unterfinanziert wie das freie Theater insgesamt, buhlt oft um dieselben Töpfe wie die Sprechtheater- oder Performancesparte. Entsprechend stumm blieben die Gruppen zunächst.

Corona-Geisterstunde beim Ensemble Kaleidoskop

Das ist seit Dezember anders. Plötzlich ballen sich die Übertragungen – oft als Musikfilm oder als abgefilmtes Theater. Am berührendsten geriet dabei „Abschied“ vom Solistenensemble Kaleidoskop: Den finalen Adagio-Satz aus Mahlers 9. Sinfonie lassen sie zerbröseln, zerbröckeln, zerfasern – bis nur noch ein Rascheln, Schaben, Kratzen zu hören ist. Dazu macht die Filmregie aus der Not, diesen im Oktober in Hellerau analog uraufgeführten Abend im Dezember vom Radialsystem Berlin aus in den Stream zu überführen, eine Tugend. Mit Überblenden schafft sie geisterhafte Atmosphären: Menschen verschwinden, gehen wie Schatten umher – plötzlich ist der Saal leer, dann wieder gefüllt. Unter anderem mit zahllosen Notenständern, die auf eine doppelte Abwesenheit verweisen: die der Musiker, die von Mahler vorgesehen waren, aber in dieser kammermusikalischen Variante nicht dabei sind. Und die der Abwesenheit von Live-Kunst in Zeiten der Pandemie.

Dass sich gegen Ende des Jahres plötzlich die Online-Premieren ballten, hat etwas mit Fördergeldern und -zeiträumen zu tun. Entsprechend wirkten viele Produktionen wie hastig zusammengetackert. Johannes Müller / Philine Rinnert etwa, die an den Berliner Sophiensälen seit vielen Jahren vor allem das klassische Repertoire mit perfomativen wie musikalischen Über- und Neuschreibungen befragen, legten mit „Nothing will be archived“ einen eher rätselhaften Musiktheater-Film vor, der sein Thema (die vergessene Berliner Filmstadt Woltersdorf) mit dramaturgischen Seitenblicken überfrachtet. Paul Fricks Klangspur geht im diffusen Bildschnitt unter.

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