Porträt: Oase der Eigentlichkeit

Porträt: Oase der Eigentlichkeit

Christoph Marthaler zum 70. Geburtstag – eine Skizze

Was wäre unser Theater ohne ihn? Ärmer in so Vielem. Bei Christoph Marthaler drehen sich die Räder in Zeitlupe. Man sieht klarer deswegen. Wie im Brennglas fletschen die Charaktere auf der Bühne ihre Zähne, die Traumverlorenen wie die Aasgeier unter ihnen. Sonderlinge sind sie alle und doch nie Karikaturen – was in einer Theaterlandschaft, die die Abziehbilder und Zuspitzungen liebt, wie eine Oase der Eigentlichkeit wirkt.

Dabei ist Marthalers Theater ein höchst künstliches. Es kommt aus dem Geist der klassischen Musik mit ihren Regeln und ihrer Strenge, aus dem Geist der Oper mit all ihrem Gefühlsüberschuss und ihrer theatralen Konvention. Und dem Witz, der sich auftut zwischen Behauptung und Realität, Selbst- und Fremdwahrnehmung. Das alles in Anna Viebrocks herrlich ruinösen Bühnen-Seelenlandschaften.

Bei Marthaler wimmelt es von Menschen, die glauben, sie könnten, wenn sie nur dürften. Von Verdrängern und Verdränglern, Passivaggressiven und Schlafwandlerinnen, den Spleenigen und Verdrucksten, jenen mit Sprachdurchfall und jenen, die sich räuspern und dann doch schweigen. Wenn sie nicht mehr weiterwissen, dann beginnen sie zu singen. Auch die Mörder und Menschenfresser. Jeder Bach-Choral wird so zum Abgrund, zur Distanzvermessung zwischen dem, was der Mensch sein könnte, und dem, was er oft genug ist. Und manchmal erstrahlt eine ohrwurmende Stampfnummer wie „Atemlos durch die Nacht“ in einer silbrigen, zerbrechlichen Mehrstimmigkeit, als verschwisterten sich romantisches Kunstlied mit Operettenschmelz. Daneben wirkt der Text gleich doppelt so absurd.

Einst ist er aus der Schweiz aufgebrochen, dem deutschsprachigen Theater mit einer somnambulen Leichtigkeit aufzuhelfen und Bedeutungsebenen zu erschließen, die sich rein sinnlich begreifen lassen. Er hat Frank Castorfs Volksbühne eine wichtige Farbe hinzugefügt und mit „Murx!“ einen Abend geschaffen, der noch heute von Fans in ewigen Zitaten lebendig gehalten wird. Er hat am Glanz von Basel mitgewirkt. Er hat selbst Verantwortung übernommen in Zürich – aber Propheten gelten nichts im eigenen Land. Heute sind er und seine Familie bei Karin Beier in Hamburg zu Hause.

Denn Marthalers Erkundungen, seien es die Variationen über ein Thema oder die Bohrungen in den Kanon (wie „Kasimir und Karoline“, „Glaube Liebe Hoffnung“) oder nahezu vergessene Werke (wie „Das Weiße vom Ei“), sind ohne seine Familie nicht zu denken: Anna Viebrock vor allen anderen, aber auch Sasha Rau, Lars Rudolph, Ueli Jäggi Josef Ostendorf, Clemens Sienknecht, Malte Uebenauf. Co-Schweizer (im Geiste) wie seine Schüler:innen Thom Luz, David Marton, Anna-Sophie Mahler, die sein Theater weiterentwickeln. Lebendig halten müssen sie es nicht – dafür sorgt Christoph Marthaler selbst – hoffentlich noch lange. Heute wird er 70. Wir gratulieren herzlich!