Theaterkritik: Am Tag, als der Shitstorm kam

Theaterkritik: Am Tag, als der Shitstorm kam

Machtmissbrauch, Sexismus, Cultural Appropriation und die Shitstürme, die diese Vorwürfe entfachen, sind das Thema. Aber Achtung: Es wird gesungen! Denn Yael Ronen, Shlomi Shaban und das Ensemble erfinden mit ihrem Stück „Slippery Slope“ über die sogenannte „Cancel Culture“ ein neues Genre: das Debatten-Musical.

Dass der Volksmund lügt, weiß selbst das als oberflächlich und stereotyp verschrieene Musical. Böse Menschen haben keine Lieder? Völliger Quatsch, wie man in den Meisterwerken des Genres lernt: Die tollsten Songs in „Candide“, „Sweeney Todd“ und „Hamilton“ haben die Habgierigen, Massenmörder, Despoten. Was so auch für Yael Ronens jüngsten Abend am Maxim Gorki Theater gilt. In „Slippery Slope“, übersetzt etwa: rutschiger Abhang, lässt sie Musicalsongs auf aktuelle Debatten treffen, Schmelz und Belting auf Machtmissbrauch, kulturelle Aneignung und „Cancel Culture“. Der „Accusation Song“ etwa ist eine herrlich zungenbrecherische Aneinanderreihung aller möglichen Beschuldigungen.

Wobei die Sache mit den Bösewichtern hier doch nicht ganz so klar ist. Gustav, ein Sänger um die 50, erzählt uns auf seinem Comeback-Konzert, warum er eine Weile abgetaucht war: Er entdeckt und fördert die blutjunge Sky, ist wie besessen von ihr. Als sie ohne ihn Karriere macht, nicht auf seine herrlich entlarvenden Sprachnachrichten antwortet, dreht er beinahe durch. Von der Sache bekommt Stanka Wind, eine Journalistin, die eigentlich für Gustavs Frau Klara arbeitet. Plötzlich ist Gustav ein #MeToo-Fall. Was tun? Abtauchen? Aussitzen? Und was wird aus den politischen Ambitionen seiner Frau?

Auch wenn die Richtung für Gustav bald deutlich ist – bergab, wie auch Alissa Kolbuschs Bühne mit ihren sich überkreuzenden, abschüssigen Laufstegen kommentiert –, besitzt der Text, an dem auch Itay Reicher mitgearbeitet hat, eine Ronen-typisch hohe Dichte an Pointen und Wendungen. Klar umreißen die Kostüme die Charaktere: Fantasieuniform-Hemd für den Ethnokitsch-Sänger, schwerer Schmuckpanzer für die machtvolle Chefredakteurin. Vor allem in den Konzertszenen kreiert Amit Epstein Kunstwerke, als würde er Lady Gaga ausstatten: so giftig wie wuchernde Masken etwa oder Skys Kleid aus unzähligen Kuscheltieren. Der Rest der Bühne ist Projektionsfläche für Stefano Di Buduos Videos, surreale Bilderwelten, die mal in düster glühende Seelenlandschaften führen, mal den sprichwörtlichen Elefanten im Raum durch den Hintergrund trotten lassen.

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