Buchkritik: Die Auferstehung der Buchstaben

Buchkritik: Die Auferstehung der Buchstaben

Der Dramatiker Wolfram Lotz hat ein Jahr lang sein Leben mitgeschrieben. Über 900 Seiten seines Tagebuchs erscheinen nun als Buch: „Heilige Schrift I“. Will man das lesen? Man muss!

Wolfram Lotz ist ein Phänomen. Für die meisten zeitgenössischen Dramatiker:innen gilt: großes Œuvre, schmale Wirkung. Bei Lotz ist es umgekehrt. Er hat nur wenige Stücke und Hörspiele geschrieben, die es mit beachtlichen Aufführungsserien auf die deutschsprachigen Bühnen geschafft haben und mit Auszeichnungen bedacht wurden (Kleist-Förderpreis, Dramatiker des Jahres, Nestroy, gerade eben erst der Jürgen Bansemer & Ute Nyssen Dramatiker Preis).

Zu den entsprechend schmalen Bändchen kommt jetzt ein Ziegelstein von einem Buch: „Heilige Schrift I“. Es ist ein Projekt, so größenwahnsinnig und unmöglich wie seine dramatischen Texte (man denke nur an die Regieanweisungen in „Der große Marsch“): Ein Jahr lang hat er sein Leben mitgeschrieben, jede Banalität, jeden Gedanken in Notizbüchern festgehalten, die Sätze dann in ein Dokument übertragen. So entstanden knapp 3000 Seiten, die er später löschte. Weil er aber (so berichtet es der Verlag) den Anfang des Textes per Mail an einen Freund geschickt hat, blieben 900 Seiten erhalten, die nun im S. Fischer Verlag erschienen sind.

Zum Glück! Denn der hypnotische Lotz-Sound herrscht auch hier, in diesem tagebuchartigen Gedanken- und Beobachtungsmyzel, das in Eintragungen zwischen dem 8. August und 20. Dezember 2017 wuchert. Es will nichts weniger als „dem Leben also das Storytelling (zu) überlassen“ und so ein Ergebnis „aus Versehen“ produzieren.

Die nach Tagen geordneten Einträge gleichen eher lyrischen Notizen als weitschweifender Prosa, mit vielen Leerzeilen zwischen den kurzen Textblöcken. Manchmal notiert Lotz auch einfach nur die Wirklichkeit, addiert sie: Bahnstationen, Öffnungszeiten, Nachrichten. Oft lotet er aus, was die Worte aushalten, wie sie sich verändern durch Wiederholungen und Variationen. Dabei entsteht ein Sog, ein Sound, dem man gerne folgt.

Das Leben selbst ist das Thema von „Heilige Schrift I“ mit allem, was dazugehört: Essen, Arbeit, Reisen, Krankheit. Neben zahlreichen anderen Motiven schiebt sich vor allem das einer poetologischen Suchbewegung ins Zentrum: Wie lässt sich heute schreiben? „GANZ ANDERS SCHREIBEN“? Geht das überhaupt? Nach einem Fünfzeiler über Vergänglichkeit, Schuld und Sprache heißt es: „(Gefühl der Lächerlichkeit grad; so lang ich meine Gedanken NUR denke, ist das alles okay, dann, im Aufschreiben wird es oft sofort peinlich. Weil die Schrift, so lose und momentan ich das hier auch halten will, was das Denken angeht doch mindestens eine minimale FESTIGKEIT fordert, aus dem Prozesshaften rauswill; zu einem halbwegs vernünftigen Ergebnis, das aber meistens nicht da ist)“.

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