Newsletter: Ein Glück

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Newsletter der nachtkritik.de-Redaktion vom 28. April 2022: Wo ist das Publikum hin? +++ Mehr Play Time +++ Kulturelle Aneignung

­Guten Morgen,

wie sieht’s bei Ihnen im Theatersaal aus? Ausverkauft? Oder viele leere Reihen? Lange hoffte man ja, dass, wenn Corona endlich vorbei sei, die Leute zurückströmen würden in die Häuser, hungrig nach Live-Erlebnissen, ein Fest! Nun ist weder Corona vorbei noch werden alle Häuser wieder voll, auch wenn’s kaum mehr Beschränkungen gibt. Auf Twitter jedenfalls schickt Regisseur Christopher Rüping einen Warnruf angesichts der vielen unverkauften Karten für seine Premiere von „Brüste und Eier“ am Hamburger Thalia Theater (siehe auch das Bild der Woche). Drunter rätseln viele Theaterleute (und andere) über die Gründe für diesen Zuschauerschwund. Es ist absehbar, dass uns die Frage, wo das Publikum bleibt (und was es wieder zurücklocken könnte), noch eine Weile umtreibt.

Vielleicht liegt’s auch am Überangebot? Selbst wenn immer noch etliche Premieren wegen Covid-Erkrankungen im Ensemble oder Team verschoben werden müssen, kommen neue Arbeiten gerade im Dutzend raus. Am Wiener Burgtheater hatte am Wochenende Euripides Die Troerinnen Premiere, in der Neuübersetzung von Gerhild Steinbuch und der Regie von Adena Jacobs – mit erschreckenden Gegenwartsparallelen. Nach der Münchner deutschsprachigen Erstaufführung zündete Matthew Lopez‘ Das Vermächtnis über schwules Leben und Geschichte in New York auch in Hannover bei Ronny Jakubaschk (wobei sich die lokalen Kritiker sehr an der Länge aufhielten – für Berliner und Richard-Wagner-Verhältnisse sind gute fünf Stunden ja nicht viel). Und Pınar Karabulut inszenierte in Köln Katja Brunners queerfeministische Version von „Richard Drei“. Um nur drei besonders positiv besprochene Beispiele zu nennen.

Im Mai folgt an den Münchner Kammerspielen auch ein neuer Text von Wolfram Lotz, der gestern erschienen ist: Heilige Schrift I heißt er, umfasst mehr als 900 Seiten und eignet sich auf den ersten Blick nur bedingt für die Bühne: Ein Jahr lang hat Lotz tagebuchartig alles mitgeschrieben, was ihm im Leben begegnet oder durch den Kopf gegangen ist. Ein Wahnsinnsprojekt, von dem nur die Notizen von gut vier Monaten geblieben sind und nun veröffentlicht wurden. Was für ein Glück! Warum und wieso er sich auch für die Bühne eignet, habe ich hier aufgeschrieben.

Noch mehr Theater gibt’s auf nachtkritik.plus. Dort hat am Dienstag mit Play Time eine neue Reihe begonnen zum Stream und Diskurs Junges Theater. Die Auftakt-Diskussion zum Stand des Kinder- und Jugendtheaters mit Teresa Darian, Brigitte Dethier, Ulrike Stöck und Sebastian Nübling können Sie hier nachschauen. Als nächsten Stream zeigen wir an diesem Samstag ALICE lost&found von MEINHARDT&KRAUSS, ein Rätselspiel für alle ab dem Lesealter – Plätze lassen sich noch unter anmeldung@nachtkritik.de reservieren.

Was ist eigentlich das Problem, wenn weiße Menschen Rasta-Locken tragen? Die kulturelle Aneignung gehört zu den Strategien weißer Vorherrschaft, wie Natasha A. Kelly in ihrer Kolumne Die vierte Säule erklärt: „Schwarze Körper zählen in diesem Land eben immer noch nichts und haben über eine Werbebotschaft für Schokolade hinaus keinen großen Nachrichtenwert.“

Kommen Sie gut durch diese Zeit!
Georg Kasch