Theaterkritik: Vom kindlichen Schutzraum zwischen Mülltonnen

Theaterkritik: Vom kindlichen Schutzraum zwischen Mülltonnen

Barbara Hauck zeigt im Grips das Stück „Die blauen Engel“ als zupackendes Hinterhof-Theater mit starken Charakteren.

Es gibt Länder, da amüsieren sich die Menschen prächtig über den deutschen Ordnungssinn bei der Abfallwirtschaft, wo Müll nicht gleich Müll ist: Wir trennen in Bio, Papier und Rest, in Glas und Grüner Punkt. Schließlich kann es nicht schaden, genauer hinzusehen bei dem, was wir wegwerfen. Warum ist das so viel? Was lässt sich vielleicht noch gebrauchen? Und wer profitiert, wenn wir richtig trennen?

Das sind Fragen, die Manuel Ostwald in seinem Stück „Die blauen Engel“ stellt, für das er mit dem Berliner Kindertheaterpreis 2021 ausgezeichnet wurde. Da gibt es die drei „Geleerten“, die schwarze, die braune und die blaue Tonne, die miteinander in Reimen darüber nachdenken, was Müll eigentlich ist.

Sie sind allerdings nur das kindgerecht philosophische Hintergrundrauschen zur eigentlichen Story: Die Freundinnen Nadira und Liv können nur noch heimlich miteinander spielen, weil ihre großen Brüder verstritten sind. Also nutzen sie die kurze Zeit des Müllrunterbringens und den Sichtschutz der Tonnen. Hier lernen sie Siggi kennen, das Einzelkind. Sein Vorteil: Keiner redet ihm rein. Sein Nachteil: Alleine ist es langweilig. Gemeinsam werden sie „Die blauen Engel“, eine Bande, die vor allem das Ziel hat, den Streit der Brüder zu deeskalieren.

Ostwalds Geschichte für Menschen ab 6 erfindet das Genre nicht neu, findet aber eine überzeugende Sprache für die Kinder und ihre trotzigen größeren Brüder. Sie erzählt vom Wunder und der Kraft von Freundschaft und Fantasie – und schaut nebenbei beim Müll genauer hin: Warum stinkt der eine mehr als der andere? Wieso mag ihn keiner? Was kann man noch zum Spielen verwenden?

Letzteres hat sich offenbar auch das Regieteam gefragt. Ausstatterin Raissa Kankelfitz stellt neben geheimnisvoll glitzernden Tonnen und Containern eine Art Parcours aus Mülltonnendeckeln auf die Bühne, jongliert in den Kostümen der geheimnisvollen Müllfrau (Katja Hiller klopft die Tonnen auf Töne ab) mit Motiven aus Arbeitswelt und Märchen. Einmal lässt Barbara Hauck in ihrer Uraufführungsinszenierung die Kinder eine Unterwasserwelt aus Müll improvisieren: Schwimmbrillen aus Plastikschalen, Schnorchel aus Papprollen, Badeanzüge aus Müllbeuteln.

Generell inszeniert Hauck „Die blauen Engel“ als zupackendes Hinterhof-Theater mit starken Charakteren: Yana Ermilovas Liv hat sowohl Angst vor als auch um ihren Bruder und zickt eine ganze Weile gegen Siggi, dem Daniel Pohlen bei aller kindlichen Begeisterung etwas sehnsüchtig Verlorenes verleiht. Amelie Köder legt ihre Nadira robuster an, trotzt gegen die engen Ehrbegriffe, die hier durchschimmern. Sie alle sind Getriebene, an den Rand Geschobene. Zwischen den Tonnen schaffen sie sich ihren Schutzraum, von dem aus sie ihre Welt verändern.

Ihr Mut wirkt auch deshalb stark, weil Christian Giese als Bruder Thore so brutal rumprollt, dass man ihm nicht bei Nacht begegnen wollen würde – er brüllt, stampft, schnauft in seiner Jogginghose; einmal klebt er Nadira, die sich ihm entgegenstellt, seinen Kaugummi auf die Stirn. Auch Jens Modalskis Cem wirkt zunächst ziemlich breitbeinig. Dass ihre Feindschaft selbst nur eine Reaktion ist auf das Vorurteil, echte Kerle dürften keine Gefühle zeigen, legt schon die Spur zur Lösung. Dabei bleiben die Müll-moralischen Schlussfolgerungen – Trennung, Recycling, Vermeidung – angenehm im Hintergrund, wo sie von Pädagogen, Eltern und anderen Erwachsenen in Nachgesprächen aufgegriffen werden können. Belehrt wird hier jedenfalls niemand, nachdenklich gemacht schon.