Opernkritik: Ordnung nach der Orgie
Christof Loy macht Schrekers „Der Schatzgräber“ mit einer ausgefeilten Figurenführung zu einem starken Abend mit einem hervorragenden Sängerensemble
Was ist mit dieser Königin los? Eigentlich siecht sie dahin, weil ihr der Schmuck geraubt wurde. Nun aber taucht sie wie ein Gespenst im nächtlichen Saal aus dunklem Marmor auf, in dem die Schlossgesellschaft versammelt ist. Während im Orchester die Leidenschaften jubeln, gehen sich die Menschen oben auf der Bühne an die Wäsche. So sind Els und Elis, das zentrale Paar, nicht allein mit ihrer Lust: Frauen und Männer tauschen erst lange Blicke, dann flüchtige Berührungen, Umarmungen, Küsse, auch Männer und Männer, zu zweit, zu dritt, die Königin mittendrin.
So machen’s alle, könnte man meinen. Nur der Narr steht daneben und schaut zu. Und der König fehlt. Was also treibt die Königin hierher (übrigens eine stumme Rolle, auch das ist ja aufschlussreich)? Vielleicht eine innere Leere, für die der Schmuck, den sie vermisst, nur eine Chiffre ist: fehlende Lust, Gefahr, Ausschweifung.
Die Orgienszene ist die entschiedenste Deutung in Christof Loys Inszenierung von Franz Schrekers „Der Schatzgräber“. In Johannes Leiackers Einheitsbühnenbild eines düsteren Festsaals inszeniert er die Oper als Studie darüber, wie drei Außenseiter eine erstarrte (Männer-)Gesellschaft aufmischen, die sie nur akzeptiert, solange sie sie braucht. Die Inszenierung entstand bereits im Mai an der Deutschen Oper Berlin. Nun hat Loy sie für die – wesentlich kleinere – Opéra National du Rhin in Strasbourg angepasst, als französische Erstaufführung.
Auch in Deutschland ist „Der Schatzgräber“ nicht oft zu hören. Was – einmal mehr – an den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts liegt, nicht an der künstlerischen Qualität. Vollendet in den letzten Tagen des 1. Weltkriegs, uraufgeführt 1920, wurde die Oper zu Schrekers größtem Erfolg und einem der meistgespielten Werke dieser Jahre. Bis die Nazis 1933 den Stecker zogen. Was für ein Unrecht! Denn jenseits der Frage, ob „Der Schatzgräber“ nicht schon damals ziemlich rückwärtsgewandt war in Thematik und Komposition (es ist Schrekers konventionellste Oper), besitzt das Werk eine beeindruckende Bühnenwirkung.
Das Spannendste am Libretto, in dem die – damals so aufregenden – Erkenntnisse der Psychologie auf eine Märchenhandlung treffen, ist die Frage, was wichtiger ist: das Ideelle oder das Materielle. Gleich zwei Frauen können ohne Schmuck nicht leben: die Königin und die Wirtstochter Els, die bei Loy eine Kellnerin ist. Els geht über Leichen, um das Geschmeide der Königin zu bekommen. Der Sänger Elis, der ihn mit seiner Wunder-Laute auffinden soll, verliebt sich ausgerechnet in die Wirtstochter. Er gerät durch sie in Gefahr, sie rettet ihn und schenkt ihm in besagter Liebesnacht den Schmuck, den er der Königin zurückgibt – woraufhin Els dahinsiecht.
Was also zählt: Liebe oder Besitz? Die Oper hat keine Lösung. Am Ende muss Els sterben und wird als reuige Sünderin dem Himmel anempfohlen wie Kundry im „Parsifal“. Auch sonst hat Schreker bei Wagner gewildert, in seinem Libretto bis in die Wortwahl hinein, in der Partitur sich in Motivik, Klangräuschen, manchmal auch in der Stimmführung am Vorbild abgearbeitet. Das ist wirkungsvollste Spätromantik in oft strahlend-galoppierendem Dur-Optimismus, aber auch ein zutiefst erotisches Weben und Flirren im Orchester, dessen Gruppen das Gespräch miteinander suchen, während die Stimmen auf der Bühne kraftvolle Bögen drübersetzen. In einem mittelgroßen Haus wie in Strasbourg erlebt man besonders eindrücklich, was das bedeutet: Die Harfe im Dauerseinsatz ist im erweiterten Graben kaum zu sehen; die Perkussionisten sitzen in den Proszeniumslogen. Zugleich steckt die Musik voller Gesten – man muss ihnen (wie Loy) nur folgen und hat schon lauter dramatisch zugespitzte Szenen.
Marko Letonja führt das Orchestre philharmonique de Strasbourg anfangs an der kurzen Leine, zirkelt ziemlich genau den gewaltigen Apparat ab. Sicher, er muss dafür sorgen, dass weder die Sänger übertönt werden und noch einem die Ohren gellen. Aber zunächst klingt das doch alles sehr brav. Nach und nach aber lässt er dem Klangkörper Raum, flutet nach der Pause den Saal mit jenem erotischen Zauber, der direkt ins Rückenmark geht.
Wie Dirigent und Klangkörper sind auch die Solisten völlig anders besetzt als in Berlin, mit der schönen Pointe, dass Thomas Blondelle, Ensemblemitglied an der Deutschen Oper (im Mai aber nicht beteiligt), nun den Elis singt. Ein junger Mann, viril zwar, aber auch immer etwas neben der Spur. Kein Wunder, dass Els der männlichen Erotik seiner warm strömenden Mittellage verfällt. In der Höhe fehlt letzter Glanz. Aber was für ein Charakter!
Überhaupt ist das Außenseiter-Trio das große Pfund dieses starken Abends, weil hier ausgefeilte psychologische Figurenführung auf äußerst überzeugende Stimmen treffen. Helena Juntunen, die hinreißend eine Frau der Arbeiterklasse spielt, die nach oben (und vermutlich auch deshalb den Schmuck) will, verfügt über einen gleißenden Sopran. Ihr Timbre funkelt mit den Brillanten an ihrem Hals um die Wette. Beeindruckend, wie sie ganzkörperlich das Psychogram einer Zwangsgestörten auslotet zwischen feiner Ironie, beißender Gier-Schärfe und einer kindlichen Unschuld, die das Blut an ihren Händen vergessen macht. Übrigens stilisieren Loy und Kostümbildnerin Barbara Drosihn sie in der Orgienszene im schwarzen Abendkleid zu einer Art Gegenkönigin – für eine Nacht ist Els da, wo sie hinwill.
Dritter im Bunde ist Paul Schweinesters Narr, ein jungenhafter Schlacks, der mit unschuldsreiner, berückender Tenor-Schlichtheit die Macht herausfordert und das Schicksal mehrfach zu korrigieren versucht. Hilft nur alles nichts: Die Frau, die auch der Narr liebt, ist am Ende nicht zu retten. Derek Welton lässt als König seinen Bariton prachtvoll warm strömen. Nur manchmal klingt da eine Härte an, die daran erinnert, dass sich hinter der freundlich-indifferenten Fassade ein Autokrat reinsten Wassers verbirgt. Deutlicher wird der Machtmissbrauch bei Kay Stiefermanns Vogt und Per Bach Nissens Wirt – beide poltern allerdings gelegentlich an den Tönen vorbei.
Am Ende siegt also die Gesellschaft gegen die Außenseiter, die Machtarchitektur einer offensichtlich überholten Welt über diejenigen, die hier ihr Glück suchten. Zur Orgie haben sich fast alle gerne verführen lassen. Dann aber muss wieder Ordnung sein.