Buchkritik: Lügen, die unglücklich machen

Buchkritik: Lügen, die unglücklich machen

Bernadine Evaristo erzählt in „Mr. Loverman“ die Geschichte eines Patriarchen mit Doppelleben

Wie sehr prägt einen Menschen sein Umfeld? Enorm! Auf den ersten Blick hat Barry Walker mit seinen 74 Jahren alles erreicht: Er lebt in einem großen Haus in London im Wohlstand, hat eine Frau, zwei Töchter, einen Enkelsohn, ist angesehen in der Nachbarschaft, beliebt. Auf den zweiten Blick bekommt das Bild Risse: Seine Ehe ist die Hölle, auch als Vater und Großvater erweist er sich nicht unbedingt als Held. Und dann kriegt er es nicht hin, nach Jahrzehnten heimlicher Beziehung endlich zu seiner Jugendliebe Morris zu stehen – zu stark sind nach all den Jahren immer noch die Erfahrungen von Ausgrenzung und Rassismus, die er als Teenager in den 1950ern auf der Karibikinsel Antigua und später in London machte.

Barrys Doppelleben und sein Unvermögen, daraus auszubrechen, ist das dominierende Motiv in Bernadine Evaristos Roman „Mr. Loverman“. In Großbritannien erschien er bereits 2013, acht Jahre vor Evaristos Sensationserfolg, dem mit dem Booker Prize ausgezeichneten „Mädchen, Frau etc.“ Meisterhaft schilderte sie darin in freien Versen das Leben von mehreren, meist schwarzen Frauen in Großbritannien, die sich gegen Alltags-, Familien- und Karrieresorgen, aber auch gegen Männerdominanz und Rassismus stemmen müssen.

Nachdem „Mädchen, Frau etc.“ in Deutschland ein Erfolg wurde, veröffentlichte der Tropen Verlag vergangenes Jahr Evaristos Autobiografie „Manifesto. Warum ich niemals aufgebe“ – eine Geschichte, geprägt von Armut, Rassismus, Widerstand und Mut. Nun folgt „Mr. Loverman“, und dass der Roman schon zehn Jahre auf dem Buckel hat, fällt nur auf, weil wesentliche Teile der Handlung 2010 und 2011 spielen. Es ist die Erzählgegenwart von Barry – und vermutlich die Zeit, in der der Roman entstand.

Davon abgesehen wirkt der Roman frisch, sprachlich wie thematisch. Denn mit Barry hat Evaristo einen Erzähler erschaffen, der so charmant wie großspurig, so lässig wie widersprüchlich aus seinem Leben plaudert. Einerseits liebt er Morris, Shakespeare, Kunst, Philosophie. Andererseits ist er von der ganz alten Schule, was sich nicht nur an seinen altmodisch-eleganten Anzügen zeigt: „Wir Männer brauchen nichts auszusprechen. Das geht bei uns atmosphärisch.“ Bald ahnt man, dass Barry nicht nur Opfer seiner Prägungen ist, sondern auch seiner Vorurteile. Er sucht nicht den Widerstand, sondern spielt mit, weil er kein Außenseiter sein will: „Lieber unterlauf ich das System und zieh meinen Vorteil draus. Das gleiche gilt für meine Ehe.“ Dass er sich damit an seiner Frau schuldig macht, begreift er erst spät.

Und auch an seinem Liebhaber Morris, der immer stärker drängt, endlich aufrichtig zu sein und die letzten Lebensjahre zusammenzuleben, ohne das alte Versteckspiel. Schließlich ist Homosexualität in England längst straflos, gibt es die Möglichkeit der Verpartnerung. Aber für Barry ist ein spätes Coming Out nicht denkbar. Sein Credo: „Ich glaube an Diskretion.“ Außerdem will er seinen Status als Patriarch und Selfmade Man nicht gefährden: Neben seinem Job als Maschinenschlosser bei Ford kauft er in den 1960er Jahren heruntergekommene Häuser in London auf, renoviert und vermietet sie. So kommt ein beträchtliches Vermögen zusammen. Allerdings hat er sich all die Jahre von seiner Frau Carmel bedienen lassen, ist nicht mal in der Lage, den Müll zu trennen oder die Wäsche zu waschen.

Was sicher auch ein Grund ist, dass er so lange bei Carmel geblieben ist, unter deren Kratzbürstigkeit und Frömmigkeit er leidet und die sich schon einmal geweigert hatte, sich scheiden zu lassen. Der Clou von „Mr. Loverman“ ist allerdings: Carmel kommt regelmäßig selbst zu Wort. Zwischen die zwölf Kapitel, in denen Barry die Geschichte aus seiner Perspektive erzählt, in einer zupackenden Sprache zwischen Straßenjargon und Literaturzitaten, hat Evaristo sechs „Lieder“ gesetzt. Hier denkt Carmel über ihr Leben nach, singt ihre Hoffnungen, Sorgen, Schmerzen, Sehnsüchte, Leidenschaften so freirhytmisch heraus wie später ihre Schwestern im Geiste in „Frau, Mädchen etc.“

Und siehe da: Die Dinge, die Barry beklagt, kann man auch ganz anders sehen. Während er sich als lässigen Gewinnertypen beschreibt, klug und überlegen und mit dem einen Makel, dass er sein Haus und sein Leben mit einer Schreckschraube teilt, klingt ihre Einschätzung doch etwas anders: „Barry ist ein Dilettierer, versteckt sein Lückenwissen hinter intellektueller Selbstherrlichkeit, die schlicht und einfach Angeberei ist, aber gnade Gott der Person, die ihm das einfach mal ins Gesicht sagt“. Zwar weiß sie nicht, was ihn von ihr wegtreibt. Aber sie spürt seine Abwesenheit, seine Ablehnung, vermutet Affären. Und sucht nach Strategien, sich davon abzulenken. Vergebens.

Überhaupt ist spannend, wie Evaristo zuverlässig die Perspektiven wechselt. Wenn man Barry glaubt, dann ist an seiner frustrierten Frau nicht viel dran. Bald aber erfährt man, dass Carmel in London die Schule nachgeholt hat, einen Abschluss in Betriebswirtschaft und Karriere in der Wohnungsverwaltung machte. Auch die Töchter Donna und Maxine und der Enkel Daniel gewinnen an Kontur.

Ihnen allen schenkt die Autorin eine Entwicklung. So erweist sich „Mr. Loverman“ zunehmend als Schule der Einfühlung: Bedenke, dass die Perspektive deines Gegenübers womöglich völlig anders aussieht, aber ebenso berechtigt ist wie deine eigene. Mag das Ende auch etwas dick aufgetragen sein, zeigt es doch, dass Lügen unglücklich machen – und Aufrichtigkeit für alle eine Chance bietet, neu anzufangen, auch im fortgeschrittenen Alter noch.