Buchkritik: Miss Piggy und der Clown
Regisseur Barrie Kosky hat mit „Und Vorhang auf, hallo“ ein Buch geschrieben, das halb Arbeitsjournal ist, halb autobiografische Spurensuche zwischen Budapest, London, Weißrussland, Wien, Berlin und Australien – und ein großes Plädoyer für Vielfalt in der Kunst.
Was kann dieser Mann eigentlich nicht? Er inszeniert die großen Werken des Opernkanons mit der Spannung eines Thrillers und überwältigender Figurenführung, wickelt mit seinen Musical-Inszenierungen Publikum wie Kritik um den Finger. Quasi im Alleingang hat er die Jazz-Operette der 1920er Jahre wiederentdeckt und zurück ins Repertoire geholt. Und immer, wenn man’s gerade nicht erwartet, verstört er mit einer unerwarteten Deutung – sei es mit dem „Kaufmann von Venedig“, sei es mit seiner „Salome“ (beides in Frankfurt) oder dem grandiosen Bildergewitter in „Le Gran Macabre“, 2003 sein Einstand an der Komischen Oper Berlin, die er zwischen 2012 und 2022 leitete.
Hier schuf Barrie Kosky ein Haus, das so ist, wie sich Berlin gerne sieht: einladend, bunt, vielfältig. Nach der Ära Harry Kupfer, die in ihren letzten Jahren arg auseinanderbröckelte, und den ambitionierten Regiezugriffen der Andreas-Homoki-Jahre vor oft halbleerem Parkett, steigerte Kosky die Auslastung signifikant und machte die Komische Oper – auch mit großen Namen von Schauspiel und Kleinkunst wie Dagmar Manzel, Max Hopp, Peter Kurth und die Geschwister Pfister – zu einem Haus für wirklich alle: Alte, Junge, Bildungsbürger, Amüsierwütige, Ossis und Wessis, Touris und Einheimische. Und das mit einem Programm, das die sehr deutsche und völlig überflüssige Trennung von E(rnst) und U(nterhaltung) über Bord warf: Hier inszenierte Kosky Claudio Monteverdis „L’Orfeo“, die erste Oper überhaupt, ebenso lebensprall und abgründig wie Paul Abrahams Operette „Ball im Savoy“. Genredünkel? Nicht mit ihm. Das Leichte, das so schwer zu machen ist, liegt bei ihm in ebenso guten Händen wie der vermutlich ausinterpretierte Klassiker.
Etwa die „Zauberflöte“, 2012 zusammen mit der britischen Gruppe 1927 inszeniert, die wahrscheinlich die meistgespielte Opernproduktion der Gegenwart. Sie war und ist in 16 Städten zu sehen, in Düsseldorf, Barcelona, Los Angeles, Moskau, Warschau, mal als Gastspiel, mal als Lizenz-Inszenierung und hat mit ihrer bahnbrechenden Mischung aus Singspiel, Stumm- und Trickfilmästhetik weltweit mehr als 600.000 Zuschauer:innen erreicht.
Wer aber ist Barrie Kosky? Aus welchen Quellen speist sich seine Bilder- und Gedankenwelt? Dazu gibt er in „‘Und Vorhang auf, hallo!‘ Ein Leben mit Salome, Mariza, Miss Piggy & Co.“ etliche Hinweise. Zusammen mit Rainer Simon, lange Jahre Koskys rechte Hand an der Komischen Oper, hat er eine Mischung aus Autobiografie und dramaturgischer Spurensicherung vorgelegt.
Gleich vorweg: letztere überwiegt. Es gibt keine unerwarteten Geständnisse, nichts, was die Privatsphäre berührte. Hier gilt’s der Kunst – aber natürlich nicht der nationalen eines Richard Wagners (auch wenn er der erst traumatischen, dann dieses Trauma überwindenden Bayreuth-Arbeit „Die Meistersinger von Nürnberg“ ein spannendes Kapitel widmet). Sondern einer grenzüberschreitenden, weltoffen, queeren. Sein Credo: „Kunst ist keine Monokultur, sondern ein Ökosystem.“
Eine Kunst, die sich aus dem jüdischen Erbe ebenso speist wie dem Ignorieren von Konventionen. Zentral ist hier das vierte von insgesamt sieben Kapiteln (und einem Epilog), das „Miss Piggy“ heißt. „Wenn ich die zwei stärksten Einflüsse auf meine Arbeit benennen müsste, dann wären es wohl die Muppets und Franz Kafka“, heißt es da. Was ja nun doch überrascht angesichts naheliegenderer Vorbilder und Einflüsse – Kosky selbst nennt später noch Jewgeni Wachtangow („Fantastischer Realismus. Psychologie und Magie.“). Zunächst klingt es drastisch, wenn er Kermit als Prototypen des Regisseurs und Intendanten, Miss Piggy als böse Drag-Diva und Fozzie Bär als jüdischen Clown liest und auf sich projiziert: „Ich bin zu einer Art Mischung aus Schwuchtel-Frosch, einer Schweine-Dragqueen und einem traurigen jüdischen Bär geworden.“ Wenn Kosky aber beschreibt, wie die Muppets (später auch die Simpsons) „unterschiedliche Altersgruppen auf unterschiedliche Weise ansprachen“, ohne die jeweils andere zu vernachlässigen, denkt man zwangsläufig an seine Berliner Intendanz, in der ihm das selbst gelungen ist.
In den Kapiteln davor erzählt er von seiner Herkunft, seiner Kindheit in Australien, seine Einflüsse: Eine Großmutter – großbürgerlich, jüdisch, mit eigener Familienloge in der Budapester Oper aufgewachsen – pflanzte in ihn den Keim der Opernliebe, die andere – aus einem weißrussischen Shetl – symbolisiert für ihn die Verbindung zur ostjüdischen Kultur und jiddischen Sprache. Beide entkamen eher zufällig der Shoa – weite Teile insbesondere der ungarischen Familie wurden in Vernichtungslagern ermordet. Umso berührender, dass er jetzt eine völlig untergegangene Aufführungstradition wiederbelebt hat, in dem er – zum Beispiel – Leo Straus‘ Operette „Eine Frau, die weiß was sie will“ als Kammerspiel-Mischung aus Vaudeville und jiddischem Theater nur mit Dagmar Manzel, Max Hopp und Orchester inszenierte – unter der glänzenden Oberfläche pulsiert stets die Gefahr, dass die Welt jederzeit in sich zusammenstürzen könnte.
Gerade durch das erste Kapitel über Koskys ungarische Großmutter muss man sich leider etwas quälen, zu didaktisch, zu wiederholend wirken ganze Passagen. Zunehmend aber wird man durch detaillierte Beschreibungen einiger seiner besten Inszenierungen und Stoff-Auseinandersetzungen belohnt. Was er über „Eugen Onegin“ (Berlin), „Salome“ (Frankfurt) und „Tosca“ (Amsterdam) schreibt, könnte so auch in einem fundierten Opernführer stehen, ist aber immer durch praktische Erfahrung und erstaunliche Resultate beglaubigt. Zwischendrin erfährt man immer auch etwas über seine Arbeit allgemein. So versteht er sich nicht als romantisches Genie, sondern versucht in seinen Inszenierungen, „in einem Dialog mit meinem Team die richtigen Antworten zu finden. Häufig bleiben bis zuletzt Fragen unbeantwortet.“
Was auch auf dieses Buch zutrifft. Biografisches steht immer in Bezug zu seiner Arbeit. Seine erste Inszenierung, noch in der Schule: „Woyzeck“. Sein Einstand in Europa, in Wien 2001: „Dafka“, der Beginn einer Kafka-Trilogie, ein Reinfall, weil die österreichischen Goi seinen Humor nicht verstanden (wie er vermutet). Sein erste eigene Musical-Produktion: „Kiss Me, Kate“ 2008 und gleich ein Dauerbrenner an der Komischen Oper (der ihm nur gelingen konnte, weil er, wie er schreibt, Dagmar Manzel für sich entdeckte, damals noch vor allem am Deutschen Theater zu Hause). Schon damals war ja alles da, was bis heute seine Musical- und Operetteninszenierungen prägt: der Glitzer und die Abgründe, der Salto und die Möglichkeit des Sturzes – und hin und wieder eine Erinnerung daran, dass wir uns hier im Theater befinden.
Über seine Schauspielarbeiten erfährt man hingegen wenig, so gut wie nichts über seine Jahre als Co-Direktor am Schauspielhaus Wien oder Inszenierungen wie „Der Kaufmann von Venedig“ in Frankfurt (aber auch viele Seh- und Hörgewohnheiten verändernde Operninszenierungen fehlen wie „Pelléas und Melisande“, enttäuschende Abende wie „Der Jahrmarkt von Sorotschinzy“ erst recht). Dafür argumentiert er in einem eigenen Kapitel ausführlich (und absolut schlüssig), warum er die „Dreigroschenoper“ am Berliner Ensemble aus dem Geiste Kurt Weills erzählte (dessen Musik halte die brüchige Dramaturgie des Textes zusammen) und nicht dem Brechts: „Es gibt in dem Stück nicht mehr Kapitalismuskritik als in der ‚Fledermaus‘.“
So fügen sich Australien und Europa, Queerness und Judentum, Pop und Klassiker zu einer Éducation sentimentale, einer Bildungs- und Erfahrungsgeschichte. Natürlich ist das nichts für Opernhasser und Genre-Puristen. Alle anderen haben jetzt einen Text zur Hand, mit dem sich Koskys Ästhetik entschlüsseln lässt, ohne ihr den Zauber zu nehmen. Und das Plädoyer für eine diverse, umarmende Kunst, die nicht ausdrücklich verstören will und dennoch oft über Jahre nachhallt.