Theaterkritik: Ein kleines Theaterwunder

Theaterkritik: Ein kleines Theaterwunder

Thomas Ostermeier inszeniert Tschechows Klassiker „Die Möwe“ als verschrobene Komödie. Das funktioniert – auch dank Joachim Meyerhoff.

Unter so einem Baum muss man sich ja verlieben! Weit spannt die Platane ihre Äste aus, streckt sie bis unter die Saaldecke der Schaubühne, verführt zum Hochklettern und Druntersetzen. Sie ist das räumliche und emotionale Zentrum in Thomas Ostermeiers Inszenierung von Anton Tschechows „Die Möwe“. Daneben gibt es nur einige wild zusammengewürfelte (Camping-)Stühle und Tische, die je nach Bedarf vom Bühnenrand geholt werden. Hinten spannt sich eine Leinwand, in der sich die Himmelsfarben spiegeln.

Tschechow hat seine Stücke als Komödien verstanden, und so inszeniert Thomas Ostermeier „Die Möwe“ auch: als sehr lustige Tragödie lächerlicher Menschen. Dass Tschechow so oft inszeniert wird, liegt daran, dass wir uns in seinen Figuren problemlos wiedererkennen können. Zumal, wenn die Geschichte derart gegenwärtig erzählt wird wie hier. Das Schaubühnen-Ensemble hat aus Ulrike Zemmes Übersetzung eine eigene Fassung erstellt, spricht von Inflation und offenen Briefen. Zugleich ist der Abend eine große Hommage ans Theater. Der vordere Zuschauerblock bildet halbrund eine Arena, in der die beiden Schauspielerinnen – die berühmte Arkadina und die junge, noch ganz am Anfang stehende Nina – die Reaktion des Publikums suchen, mit Blicken, Gesten, einem ironischen Lächeln.

Gerade zu Beginn wird in dieser russischen Sommerfrische ja nichts weniger verhandelt als das Wesen der Bühne. Die gefeierte Arkadina (die Stephanie Eidt unter der blondierten Perücke wie einen Seifenopernstar hyperventilieren lässt) verlebt mit ihrem Geliebten, dem noch berühmteren Schriftsteller Trigorin, einige Wochen auf dem Gut ihres Bruders. Hier will ihr Sohn Konstantin das Theater revolutionieren, zusammen mit Nina, seiner Freundin, mit deren Hilfe er sein Stück vor der Sommergesellschaft zeigt. Zwei Künstler-Generationen, zwei Arten Theater zu machen, allseits überspannte Erwartungen und Gefühle – das muss ja schiefgehen. Und dann ist da noch der Gutsverwalter, den David Ruland zwischen kumpelnder Bauernschläue und plötzlich aufbrechender Brutalität anlegt: „Wenn ick heute ins Theater jeh, werd ick jleich anjebrüllt.“

Ostermeier inszeniert Konstantins Versuch als wilde Öko-Performance: Alina Vimbai Strählers Nina steht in einem Müll-Quilt auf einem Ast und trägt ruhig den etwas wirren Text vor, während Laurenz Laufenbergs Konstantin in einer Ganzkörperstrumpfhose ein aufblasbares Reh zu Tode reitet. Natürlich ist das lächerlich. Aber Ostermeier schenkt diesem künstlerischen Ausläufer der Letzten Generation doch einen großartigen Moment: Da steht Nina mit ausgestreckten, brennenden Händen da, und plötzlich sind Zeit und Raum aufgehoben, mischen sich griechischer Mythos und Dystopie zu einem zwingenden Bild, das dringlich ist und schön zugleich.

Schönheit und Jämmerlichkeit liegen hier oft nah beieinander, in Hêvîn Tekins desillusioniert genervter Mascha, in Renato Schuchs bedröppeltem Lehrer. Auch Schriftsteller Trigorin ist lächerlich, durch und durch sogar. Um seine Glatze wallt ein fahler Haarkranz, er selbst ist völlig linkisch in sich verkrümmt, wenn er nicht gerade Menschen durch seine Lesebrille anstarrt, als wolle er sich jedes Detail einprägen. Nervös knibbelt er am Etikett seiner Bierflasche. Einmal geht er, während vorne die andern miteinander reden, hinten zum Angeln – nackt bis auf die Badehose, ein gemalter Witz. Wie es aber Joachim Meyerhoff gelingt, im langen Gespräch mit Nina über die Schalheit des Ruhms und sein eigenes Getriebensein plötzlich Mensch zu werden, halb Schmerzensmann, halb Frischentflammter, ist ein kleines Theaterwunder.

Dessen zweiter Teil Alina Vimbai Strähler heißt. Ihre Nina ist zunächst herrlich unscheinbar, auch in Konstantins Stück, so freundlich-durchlässig, dass aus ihr wirklich noch alles werden kann. Sie gehört zu den wenigen, die nicht um sich selbst kreist, die neugierig ist auf das Leben, dazu uns, das Publikum, zu ihrem Komplizen macht. Ihre Euphorie ist ansteckend, und durch ihre Augen begreift man zumindest für Momente, was Trigorin für sie sein muss.

Dass Ostermeiers Inszenierung trotz solcher Momente zuweilen etwas leichtgewichtig wirkt, dürfte neben dem dominierenden Witz am Vergleich mit Jürgen Goschs epochaler Inszenierung am Deutschen Theater vor 15 Jahren liegen. Gosch sezierte die Figuren, legte sie in all ihrer Lächerlichkeit und Tragik bloß, während die Schauspieler zwar Gefangene ihrer Figuren waren, zugleich aber alles Maskenhafte, Verstellte verloren.

Ostermeier aber will die verschrobene Boulevardkomödie mit Anspielungen in alle Richtungen (auch in die Schaubühnen-Geschichte hinein), unter deren glattpolierter Oberfläche sich Abgründe andeuten, ohne wirklich aufzureißen. Spuren gibt es reichlich: Einmal kommt İlknur Bahadırs sich immer etwas wegduckende Polina Andrejewna, Frau des brutalen Gutsverwalters, mit einem blauen Auge auf die Bühne. Ein anderes Mal jagt akustisch ein Jet über die Köpfe der Spielenden – und weiter geht’s, als ginge das (Kriegs-)Treiben niemanden was an. Alle kreisen weiter um sich und ihre persönlichen Krisen. So wie wir. Und so fügt sich diese „Möwe“ gerade in ihrer Leichtigkeit und ihrem – nach gut zweieinhalb pausenlosen Stunden – etwas abrupten Ende doch noch zu einer Zeitdiagnose. Und der Baum schweigt.