Opernkritik: Komponistinnen als Boten aus dem Jenseits

Opernkritik: Komponistinnen als Boten aus dem Jenseits

Ein sehenswertes Denkmal für zu Unrecht vergessene Musik: “ Wüstinnen“ an der Neuköllner Oper

Was ist das? Eine Wüste? Ein Traumland? Die Unterwelt? Eckig kanten sich die blauen Sperrholzdünen auf der Bühne der Neuköllner Oper. Mittendrin: ein gelber Fiat, der offenbar liegengeblieben ist. Drinnen hocken die fünf Mitglieder der Girlband Tank-Baby, die so schnell ihr Ziel nicht erreichen werden. Und nun?

Das ist die Ausgangslage von „Wüstinnen“, einem Abend, mit dem Sommer Ulrickson und Richard Schwennicke fünf vergessenen Komponistinnen ein Denkmal setzen wollen. Um die Musik so verschiedener Frauen wie Barbara Strozzi, Francesca Caccini, Maria Theresia Paradis, Florence Price und Ethel Smyth in einen halbwegs sinnvollen Zusammenhang zu stellen, hat sich Regisseurin Sommer die Wüsten-Geschichte ausgedacht. Denn den Band-Leuten fährt hier die Musik geisterhaft in die Glieder: Plötzlich singen sie in fremden Zungen, von Liebe und Träumen, Nacht und Sonne (was nicht zur Situation passt, wird auch nicht übertitelt). Drumherum huschen janusköpfig und graublau die fünf Musikerinnen wie Boten aus dem Jenseits.

Dazwischen streiten sich die Band-Girls (mit queerem Quoten-Bariton) in blauen Pagenkopfperücken und Pailletten über die Gründe für die Panne, singen schönen A-cappella-Pop (von Sommer und Brieann Pasko), proben ihre Choreos und stellen ihr Leben infrage. Je länger ihr Aufenthalt in dieser Zwischenwelt dauert – sind’s Stunden, Tage, Jahre? –, desto öfter sprechen auch die toten Komponistinnen direkt aus ihnen in einer Mischung aus Gespensterstunde und Muppet-Show. Das ist sehr witzig, wenn etwa Tilla Kratochwil, die prägnanteste Performerin des Abends, zu einem Original-Interview mit Ethel Smyth die Lippen bewegt. Oder wenn sich die Kolleginnen gegenseitig ihre Erfolge und Leidenswege um die Ohren hauen, als könne man damit postum einen Blumentopf gewinnen.

Insgesamt aber bleibt die Geschichte ein Vehikel, um in die Musik dieser zu Unrecht vergessenen Komponistinnen reinzuschnuppern. Insbesondere das teils impressionistische Flirren und Blühen in der spätromantischen Musik Ethel Smyth‘ macht neugierig – immerhin die erste Frau, von der mit „Der Wald“ 1903 eine Oper an der New Yorker Met lief (Uraufführung war ein Jahr zuvor an der Berliner Hofoper). Schwennicke hat die Fragmente kammermusikalisch für Klavier, Geige, Cello, Flöte und Saxofon arrangiert. Die Musik des 20. Jahrhunderts strahlt hier irisierend, während die Kompositionen aus Barock und Klassik etwas blass bleiben. Treffend hingegen das verbindende Sirren, Hauchen, Wispern, das Schwennicke komponiert hat, halb Wüstengeräusche, halb Geistergeflüster.

Musikalisch fällt Florian Küppers‘ warmer, fein nuancierender Bariton auf, auch Caroline Schnitzers charakterstarker Mezzo. Und Nadezda Tseluykina, die vom Flügel aus den Abend musikalisch leitet: Mit feiner Anschlagskultur, mal auch mit beherztem Griff in die Saiten trifft sie die verschiedenen Stile genau. Das macht neugierig auf die Werke. Zu den Komponistinnen gibt’s im virtuellen Programmheft Hinweise, so dass man sie hinterher nachhören kann. Von Smyth‘ „The Prison“ etwa findet man beim Label Chandos eine bemerkenswerte Aufnahme, und Stardirigent Yannick Nézet-Seguin hat mit dem Philadelphia Orchestra bei der Deutschen Grammophon Prices Symphonien 1 und 3 vorgelegt. Denn ja: Wir wollen mehr davon! Gerne auch an den großen Berliner Opern- und Konzerthäusern.