Theaterkritik: Ein psychologisch feinfühliges Figurengewimmel

Theaterkritik: Ein psychologisch feinfühliges Figurengewimmel

Großer Wurf der Bühnenkunst: Mateja Koležniks Bochumer Maxim-Gorki-Inszenierung “ Kinder der Sonne“ beim Theatertreffen

Was für eine Prachtbühne: Als hätte jemand mit einem großen Messer schräg durch ein Haus geschnitten, liegen Diele, Treppenansatz, Salon vor uns. Ein Altbau, herrschaftlich, der seine besten Zeiten hinter sich hat. Parkett, hohe Fenster, alte Möbel, das ja. Aber die Menschen in ihren 60er-Jahre-Kostümen – aus dem Plattenspieler dröhnt Yma Sumacs „Malambo No 1“ – irren hier durch die Gänge, als wüssten sie, dass ihre Zeit abläuft.

Ein wenig erinnert dieses Setting im „Kinder der Sonne“-Gastspiel beim Berliner Theatertreffen an Fernseh-Realismus (entsprechend gut funktioniert auch die TV-Version in der 3sat-Mediathek). Und doch steht das alles in Gänsefüßchen, denn zu beiden Seiten der Bühne leuchten Scheinwerfer das Arrangement aus; auch sieht man links vom Flur Teile der Kulissenrückseite. Und das wird dem großartigen Raimund Orfeo Voigt vermutlich nicht aus Versehen passiert sein.

Mateja Koležnik inszeniert Maxim Gorkis Tragikomödie der um sich selbst kreisenden Bildungselite als Versuchsanordnung: Menschengewusel unterm Brennglas. Leise sprechen sie, trotz Mikroports, zeigen kleine Gesten, feinste Seelenregungen. Gorki schickt ja ein Arsenal an Figuren los, um zu zeigen, wie realitätsfern und ichbezogen das Bildungsbürgertum ist: Den Wissenschaftler Protassow, den nur seine Experimente interessieren. Seine Frau Lena, die aus Langeweile mit ihrem Neffen anbandelt, im Original ein Maler, hier ein Filmemacher, der viele Künstlerklischees erfüllt. Seine Schwester Lisa, die so lange mit den Gefühlen ihres Verehrers spielt, bis der sich umbringt. Dessen Schwester, durch Heirat reich geworden, die sich nun durch Protassow Erlösung erhofft.

Um sie weben leise und still die Angestellten. Manchmal werden sie gedemütigt, manchmal brausen sie auf, zeigen Muskeln. Am Ende deutet sich ein Aufstand an – eine Warnung. In seiner äußerst witzigen, boulevardesken „Kinder der Sonne“-Inszenierung 2010 am Deutschen Theater mit Nina Hoss und Ulrich Matthes hatte Stephan Kimmig diese Dienstboten fast vollständig gestrichen, ließ eine heutige Intellektuellen-Generation um sich selbst kreisen. Koležnik geht einen anderen Weg: Hier sind die Bediensteten immer da, auch wenn sie zu verschwinden versuchen. Sie sind ein Symbol der Ungleichheit – und sorgen am Ende mit dafür, dass den Protassows durch die Hintertür die Bude ausgeräumt wird.

Man kennt dieses Gewimmel und Gewusel aus Koležniks Inszenierungen am Berliner Ensemble, „Gespenster“ und „Hexenjagd“. In Bochum aber ist ihr mit einem fantastischen Ensemble deshalb ein Wurf gelungen, weil hier jede Rolle so genau und zugleich so zurückhaltend gespielt wird, dass sich ein faszinierendes Panorama ergibt. Kein Schicksal sticht heraus, niemand ist lächerlicher oder bedrohlicher als alle anderen. Schwer deshalb, einzelne herauszugreifen, Guy Clemens‘ weltfremder Protassow etwa, Anne Rietmeijers geisterhafte Lisa, Anna Blomeiers Lena mit Divenallüren.

Ein wenig schade, dass Koležnik am Ende noch einmal deutlich macht, worum’s geht, wenn aus dem Radio Berichte zur Ungleichheit in der Gesellschaft tönen. Da haben wir längst verstanden: Wir sind gemeint – und zum Handeln aufgefordert.