Essay: Sand im Getriebe!

Essay: Sand im Getriebe!

Auch wenn das Theater in den letzten Jahrzehnten inklusiver geworden ist: Schauspieler*innen und Regisseur*innen mit Behinderung sind im Theaterbetrieb noch immer eine Ausnahme. Was würde eine inklusive Arbeitsweise bewirken?

Dreissig Sekunden können eine Ewigkeit dauern. Zum Beispiel in Disabled Theater, einem Stück des französischen Choreografen Jérôme Bel. Zu Beginn betreten die Performer*innen einzeln die Bühne. Jede*r stellt sich mittig hin und blickt das Publikum an. Lange. Schweigend. Und geht dann wieder ab. Man meint zu unterscheiden zwischen dem Coolen, der Schüchternen, dem In-sich-Gekehrten. Ist dieser Blick skeptisch, jener geringschätzig, der hier trotzig? Oder interpretiert man nur, weil man als Mitglied der Mehrheitsgesellschaft im Publikum sitzt und die da vorne alle das Label «geistig behindert» tragen? Wer schaut hier eigentlich wen an, und wer bestimmt diesen Blick? Machen wir die Performer*innen mit unserem Starren zu Objekten? Oder bringen sie, die Schauspieler*innen des Zürcher Theater HORA, mit ihrem Zurückstarren unsere stabile Zweiteilung in «wir» und «jene» durcheinander?

Nie dagewesene Sichtbarkeit

Disabled Theater, 2012 entstanden, war für das Theater im Allgemeinen und das inklusiv arbeitende Theater im Besonderen ein Wendepunkt. Die Produktion lief auf allen wichtigen Festivals von Avignon bis zum Berliner Theatertreffen, tourte weltweit – und sorgte so für eine nie dagewesene Sichtbarkeit. Sie katapultierte professionelle Darsteller*innen mit sogenannt geistiger Behinderung und Lernschwäche ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Indem der Schauspieler Thomas Thieme die Schauspielerin Julia Häusermann beim Theatertreffen 2013 mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis auszeichnete, machte er deutlich: Auch das inklusive Theater kennt besondere Begabungen, Ausnahmetalente, Stars.

Zugleich warf Disabled Theater Fragen auf, mit denen sich die – nahezu ausschliesslich nicht-inklusiv arbeitende – Theaterwelt bis dahin nicht auseinandergesetzt hatte. In der oben beschriebenen Eröffnungsszene spiegelt sich bereits das schwierige Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zu Menschen mit Behinderung im Allgemeinen und zu Theater mit Künstler*innen mit Behinderung im Besonderen. Darf man schauen? Wann wird der empathische Blick paternalistisch, wann gerät er zum Starren? Allerdings: Würde das Nicht-Hinschauen nicht auch ein Verschwinden mit sich bringen, ein Unsichtbarmachen?

Fragen, wie sie das Theater mit Menschen mit Behinderung seit über dreissig Jahren stellt. Abende wie Disabled Theater, aber auch Inszenierungen von bekannten Regisseuren wie Christoph Schlingensief oder Milo Rau (Die 120 Tage von Sodom), von Performancekollektiven wie Monster Truck sowie Choreografien von Gerda König und Michael Turinsky –um nur einige zu nennen – machen deutlich: Keine Entwicklung des zeitgenössischen Theaters hat den Blick auf das Theater und Schauspieler*innen stärker herausgefordert als Schauspieler*innen mit Behinderung. Denn das Theater, die Schau-Bühne, ist bis heute der Ort fürs Hingucken. Wer hier auftritt, sagt: Seht mich an. Es ist eine meist freiwillige Entscheidung.

Deshalb ist die Rolle von inklusivem Theater gesellschaftspolitisch nicht zu unterschätzen. Zwar erreichen Produktionen in Film, Fernsehen und Streaming mit Schauspieler*innen mit Behinderung ein wesentlich grösseres Publikum. Aber sind diese Produktionen inklusiv, wenn Schauspieler*innen mit Behinderung in einem strukturell von Menschen ohne Behinderung geprägten Produktionsapparat das spielen, was von ihnen erwartet wird und ausschliesslich Menschen mit Behinderung verkörpern? Auf der Bühne können sie alles sein. Und sie sind – je nach Bühne oder Gruppe – Teil eines grösseren Netzwerkes oder Ensembles, haben zunehmend die Möglichkeit, auch jenseits des Spiels künstlerische Entscheidungen autonom zu treffen.

Irrenhäuser und Freakshows

Theater als Ort der Sichtbarkeit für Menschen mit Behinderung ist auch deshalb so wichtig, weil Menschen mit Behinderung so lange und erfolgreich aus der Öffentlichkeit verdrängt wurden. Spätestens mit der Aufklärung etablierte sich eine Doppelstruktur aus Verdrängung und Objektifizierung. Damals begann «das grosse Einschliessen» (Michel Foucault): Alle Menschen, die nicht ins Raster der bürgerlichen Gesellschaft passten, wurden in Irrenhäuser wie das in Charenton bei Paris verbannt, neben Menschen mit Behinderung und psychisch Kranken auch Oppositionelle, Homosexuelle und Prostituierte. Zugleich öffnete Charenton sonntags seine Türen für die Pariser Bürger*innen, die sich die aus ihrer Sicht bedauernswerten Kreaturen ansahen. Diese ihrerseits entwickelten erste performative Strategien (was etwa der Dramatiker Peter Weiss in seinem Marat/Sade-Stück aufgriff).

Aus diesen Ausstellungs- und Vorführungsstrategien haben sich im 19. Jahrhundert die Freakshows entwickelt, die zu festen Jahrmarktsattraktionen wurden: Das, was man nicht sehen sollte, was es in der alltäglichen Umgebung nicht mehr gab, war plötzlich interessant, exotisch. Ausserdem hatten die Freakshows (wie auch die zeitgleich populären Völkerschauen, in denen sich eine kolonialistische westliche Überlegenheit feierte) eine Entlastungsfunktion für die nichtbehinderten Zuschauer*innen: Selbst diejenigen, die sich als hässlich empfanden oder arm waren, konnten sich im Gegensatz zu den ausgestellten Menschen als «normal» wahrnehmen.

Wie die Ausgestellten die Freakshows erlebten, lässt sich allenfalls erahnen. Vermutlich haben viele unter der Situation gelitten. Es gibt aber auch zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass die Freakshows es Menschen mit Behinderung ermöglichten, sich den Lebensunterhalt zu verdienen, selbstständig und in sicheren Gemeinschaften zu leben. Und mitunter eigene performative Strategien zu entwickeln.

Anders jedenfalls als all jene Menschen mit Behinderung, die um die Jahrhundertwende in den Fokus von Medizin und Naturwissenschaften gerieten, zu Forschungsobjekten wurden. Ein kalter Blick, der sich bis zu den Euthanasieprogrammen der Nazis verlängern lässt. Wieder wurden Menschen mit Behinderung ausgestellt, diesmal als Abbildung: links die Karikatur eines behinderten Menschen, rechts eine deutsche Familie in Idealgestalt, darunter Zahlen und Vergleiche im zynischen Wortlaut: «Von dem, was dieses unwerte Leben verbraucht, kann eine gesunde Familie ein Jahr leben.» Und auch nach 1945 wurden Menschen mit kognitiver Behinderung oft weggesperrt, zusammengepfercht, aus dem Blickfeld der Gesellschaft an die Ränder verbannt.

Und Hamlet und Antigone?

Diese seit der Aufklärung erprobte Praxis des Ausblendens und Ausstellens findet sich schliesslich im «Cripping up» wieder, jener Schauspielpraxis, Menschen mit Behinderung durch nichtbehinderte Schauspieler*innen verkörpern zu lassen – mit der Begründung, dass Spieler*innen alles spielen können, das sei Kern der Verwandlungskunst. In der Kritik am Cripping up geht es nicht  nur um Darstellungsklischees, sondern um Macht und Gerechtigkeit. Um Macht, weil die Darstellung von Behinderung immer noch von der Mehrheitsgesellschaft definiert wird. Um Gerechtigkeit, weil Menschen mit Behinderung auf der Bühne so lange nicht von Menschen ohne Behinderung verkörpert werden sollten, bis Schauspieler*innen mit Behinderung in den Ensembles von Stadt- und Staatstheatern auch Hamlet oder Antigone spielen dürfen.

Erste Schritte dahin gibt es. Ein paar Beispiele: Die Münchner Kammerspiele, eine der wichtigsten, profiliertesten deutschsprachigen Bühnen, besitzen seit 2021 als erstes deutschsprachiges Stadt- und Staatstheater ein inklusives Ensemble, in dem es sowohl mehrere Schauspieler*innen mit kognitiven als auch mit Körperbehinderungen gibt. Erst im Februar dieses Jahres entstand dort Anti•gone in leichter Sprache. Titelrolle: Johanna Kappauf, eine der spannendsten Schauspielerinnen überhaupt, auch ohne Label. Regie Nele Jahnke, die über Jahre das Zürcher Theater HORA prägte und nun schon mehrfach HORA-Schauspieler*innen wie Julia Häusermann für einzelne Projekte nach München gelockt hat.

Auch die Freie Szene, aus der viele der spannendsten inklusiven Arbeiten der letzten zwanzig Jahre kommen – man denke an Gruppen wie Monster Truck, Theater Stap, Rimini Protokoll – hat sich weiterentwickelt, weg von einzelnen künstlerischen Projekten, hin zu strukturellen Veränderungen. Die Sophiensäle in Berlin etwa bieten nicht nur durchgängig Relaxed Performances an, um Menschen mit besonderen Bedürfnissen Teilhabe zu ermöglichen –und damit für alle eine entspanntere Atmosphäre zu schaffen. Sie haben auch ein divers-inklusives Programm, labeln es aber nicht so, um nicht neue Schubladen zu etablieren.

Auch die Ausbildungssituation, bislang im Teufelskreis gegenseitiger Schuldzuweisungen gefangen –die Ausbildungsstätten sagten: Wir bilden niemanden aus, den keiner braucht; die Theater sagten: Es gibt keine ausgebildeten Schauspieler*innen für uns –, verbessert sich leicht: In der Spielzeit 2019/20 hat das Schauspiel Wuppertal ein inklusives Schauspielstudio gegründet, um Menschen mit Behinderung eine Ausbildung zu ermöglichen. Die Schauspielerin Yulia Yáñez Schmidt ist bereits ins Festengagement ans Junge Schauspielhaus Düsseldorf gewechselt. Daneben gibt es nun an der Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg im Studiengang «Kunst und Theater im Sozialen» Plätze für Menschen auch mit kognitiver Behinderung. Und selbst eher konservative Institutionen wie die Berliner Hochschule für Schauspielkunst «Ernst Busch» machen sich gerade erste Gedanken, wie Inklusion bei ihnen aussehen könnte. Alles extern finanziert, klar. Die wenigsten Institutionen gehen so weit, die eigenen, natürlich immer zu schmalen, Mittel anzugreifen.

Nur Ausnahmen

Diese Beispiele – so grossartig sie im Einzelnen sind und so unrealistisch sie noch bis vor Kurzem schienen – zeigen allerdings auch, was noch nicht erreicht ist. Denn es sind Ausnahmen. So wird zum Beispiel im Theater verstärkt diskutiert, wer eigentlich auf der Bühne zu sehen ist und ob die Spieler*innen die vielfältige Gesellschaft repräsentieren (oder nur das weiße Bildungsbürgertum). Sechzehn Prozent der deutschen Bevölkerung hat eine Behinderung. Die etwa fünfzehn Schauspieler*innen mit Behinderung an Stadt- und Staatstheatern in Mannheim, Hannover, Düsseldorf machen 0,3 Prozent der fest engagierten Schauspieler*innen aus. In der Schweiz beträgt die Anzahl von Menschen mit Behinderung in der Bevölkerung 19,5 Prozent – und nach meiner Kenntnis gibt es keine*n einzige*n Schauspieler*in mit Behinderung in Stadttheaterensembles (dafür weitreichende Kooperationen mit Theater HORA, etwa mit dem Schauspielhaus Zürich).

Zwar sind Schauspieler*innen die Gesichter eines Theaters. Aber ebenso wichtig wäre es, wenn es auch Souffleure, Lichttechnikerinnen, Dramaturgen und Intendantinnen mit Behinderung gäbe. Weil Diversität – das gilt ja auch für Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität, Klasse – oft die spannenderen Ergebnisse bringt. Und weil in einem Prozess die Anwesenheit von ein, zwei Betroffenen reicht, um eine Diskussion nichtdiskriminierend zu führen. Hier sind übrigens Gruppen wie zunächst Theater HORA aus Zürich, später auch Meine Damen und Herren aus Hamburg und das Theater Thikwa aus Berlin entschieden vorangegangen beim Versuch, einigen ihrer Spieler*innen auch schöpferische Aufgaben jenseits der Darstellung zu übertragen. Mit teils frappierenden Ergebnissen, wenn man etwa an den Hamburger Autorregisseur Dennis Seidel denkt, der in seinen Stücken – faszinierend flirrende Seifenopern zwischen Musical, Barbie-Puppenspiel und David Lynch – Regie führt und selbst die Hauptrollen übernimmt.

Zeitgleich formiert sich eine Gegenbewegung: In der Süddeutschen Zeitung ätzt Theaterkritikerin und Feuilleton-Journalistin Christine Dössel wiederholt gegen die Kammerspiele, die eine Agenda «politischer Korrektheit» unter Auslassung der Kunst umsetze. Jakob Hayner, ebenfalls Theaterkritiker, in Die Welt findet, dass es genügend inklusive Theater gebe, da müsse man nicht die Kammerspiele ruinieren. Auch einige Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung kann man als denunzierend bezeichnen. Und dass das Engagement des Leitungsduos des Zürcher Schauspielhauses nicht verlängert wurde, hat viele Gründe; mindestens aber wegen ihrer Diversitätsbemühungen – zu denen zuletzt auch eine grosse Koproduktion mit dem Theater HORA gehörte – muss man das Ende bedauern.

Die grösste Furcht der Kritiker*innen: dass die Qualität leidet, guter Wille und politische Entscheidungen die Kunst erstickt. Was stimmt: Theater mit Menschen mit Behinderung ist eine Herausforderung für einen Betrieb, der in den vergangenen dreissig Jahren auf Effizienz und Output getrimmt wurde. Solange inklusives Theater an den Rändern stattfand, in Gruppen wie Theater HORA, Theater RambaZamba oder Meine Damen und Herren, konnte man das noch ignorieren – niemand zählte Premieren nach und wunderte sich. Aber jetzt, da Stadt- und Staatstheater wie Wuppertal, Mannheim und München inklusiv zu arbeiten versuchen, knirscht es. Natürlich auch, weil man überall Erfahrungen sammelt, von denen es noch zu wenige gibt. Weil jedes Haus individuelle Voraussetzungen hat in der Struktur und der Architektur (Stichwort Barrierefreiheit). Und weil es eine Kunst ist, bei derartigen Herausforderungen das ganze Haus – immerhin in der Grösse eines mittelständischen Unternehmens – mitzunehmen.

Was es braucht: mehr Zeit. Inklusives Arbeiten wirft Sand ins Getriebe der immer hochtouriger laufenden Theatermaschinerie des Höher-Schneller-Weiter, des «noch eine Bühne, noch ein Projekt, noch eine Lesung». Die Proben, Wege, Planungen dauern länger, auch die Pausen, die Reflektionen.

Genau hier liegt aber auch die Chance des inklusiven Arbeitens fürs Theater. Es gebietet ein Innehalten in der (Selbst-)Ausbeutungsspirale, ein Nachdenken darüber, was wirklich wichtig ist, welche Barrieren existieren – und was die Kunst braucht, die ja neben all der Verwaltung hoffentlich entstehen soll.

Und Kunst entsteht, ständig, überall, in der Freien Szene wie am Stadttheater. Um nur einige Beispiele zu nennen: Helgard Haugs Chinchilla Arschloch, waswas in Frankfurt am Main, Scores That Shaped Our Friendship von und mit Lucy Wilke, Paweł Duduś und Kim Ramona Ranalter in München, Nicolas Stemanns Zürcher HORA-Koproduktion Riesenhaft in Mittelerde. Ein aktueller Höhepunkt: Florentina Holzingers Ophelia’s Got Talent an der Berliner Volksbühne. Ein Abend wie ein Rausch, halb Piratinnen-Freakshow, halb Wasserballett, mit Hexensabbat und Fridays-for-Future-Kindern, die den Erwachsenen hinterherräumen. Unter den grossartigen Performerinnen sind auch Saioa Alvarez Ruiz und Zora Schemm. Ein gutes Zeichen, dass kaum jemandem bemerkens- oder kommentierenswert erschien, dass da zwei Spielerinnen mit Behinderung auf der Bühne stehen, nicht bei der Premiere, nicht beim Berliner Theatertreffen 2023. So schön kann Zukunft sein.