Kommentar: Technik und Ästhetik

Kommentar: Technik und Ästhetik

Frei nach Wagners Motto „Kinder, macht Neues!“ setzen sich die Bayreuther Festspiele in diesem Jahr mit neuen Technologien auseinander. Noch hat die AR-Brille im „Parsifal“ ihre Schwächen, doch lässt sich das Potenzial für die Zukunft erahnen.

Sie war das Gesprächsthema bei der „Parsifal“-Premiere in Bayreuth: die AR-Brille. Schon im Vorfeld der Festspiele gab es Ärger, denn statt einer Komplettausstattung stehen nur 350 Brillen zur Verfügung – zu teuer ist die Technik, zu ungewiss die Aussicht, dass sie auch in anderen Produktionen zum Einsatz kommt. Und dann der Aufwand vor Ort: Schon mittags muss man auf den Hügel, um die Brille anpassen zu lassen. Zum einen kann man teilweise Sehschwächen ausgleichen lassen (eigene und AR-Brillen schließen einander aus), zum anderen wird die Höhe der Nasenbügel justiert, damit man auch wirklich das ideale Sichtfeld erwischt. Außerdem gibt’s kleine Klebepads, mit denen man noch einmal nachhelfen oder den Druck abmildern kann – denn das Gerät, das einer Sonnenbrille ähnelt, ist ziemlich schwer.

Augmented Reality (AR) lässt sich mit erweiterter Realität übersetzen. Anders als in der Virtuell Reality (VR), bei der man komplett in eine digitale (Gegen-)Welt eintaucht, wird hier der Wirklichkeit etwas hinzugefügt. Im Fall der Brille heißt das: Man sieht durch sie das Bühnengeschehen wie alle anderen im Publikum auch (allenfalls leicht eingedunkelt), bekommt aber weitere visuelle Eindrücke zugespielt. Das Sichtfeld entspricht etwa einem Smartphone im Querformat, wirkt aber wegen der 180-Grad-Technik größer – ob man nach recht schaut oder nach links, nach unten oder nach oben: Überall können sich weitere Bildräume auftun. Die Datenübertragung funktioniert (noch) nicht über WLAN oder Bluetooth, sondern über ein relativ dickes Kabel – man kann die Brille also nur am Platz benutzen.

Im Gegensatz zu VR ist AR eine relativ junge Technik – und noch längst nicht da, wo sie einmal hinwill. Schon vor Jahren waren Brillen im Gespräch, mit denen man Daten aus dem Netz – Mails, Karten, Hintergrundinformationen – abrufen und in den Raum vor sich projizieren können sollte. Doch die Hürden sind hoch, die Rechenleistung gewaltig. Das merkt man auch in Bayreuth, wo die in den Raum zwischen Sitzplatz und Bühne zugespielten Bilderwelten mitunter ziemlich grobpixelig wirken, wie Boten aus längst vergangenen Computerspielzeiten. Immerhin schillern sie farbig und bewegen sich halbwegs natürlich. Überhaupt gehört zu den Stärken der Technik, dass sie mit ihren 3D-Objekten beindruckend die Raumtiefe ausreizt.

Auch wenn AR also noch nicht ausgereift ist, wird sie im Musiktheater schon seit einigen Jahren ausprobiert. So stattete Evelyn Hriberšek in ihrer interaktiven virtuell-analogen Rauminstallation „EURYDIKE“ 2017 ihr Publikum mit VR-Brillen und Kopfhörern aus und stellte ihm in einer 3D-Umgebung mit 360-Grad-Sound die Aufgabe, Eurydike aus dem Schattendasein zu befreien. Komponistin SØS Gunver Ryberg schuf eine vibrierende, auf die Nervenspitzen zielende elektronische Musik. Der Clou: Die VR-Brillen wurden gehackt und ermöglichten Durchblicke, so dass sich bereits hier realer und virtueller Raum durchdrangen.

Seit 2016 gibt es kommerzielle transparente Brillen, mit denen die Realität um virtuelle Elemente erweitert werden kann. Die Berliner Musiktheater-Gruppe Nico and the Navigators hat sie als eine der ersten künstlerisch genutzt. Etwa in ihrer Produktion „Verrat der Bilder“ zum Bauhaus-Jubiläum 2019: Da materialisierten sich dank der AR-Brillen in flirrendem Licht ganze Bühnenbilder, schwirrten Worte und Formen durch die Luft. Anders als in Bayreuth gab es Momente, in denen man selbst mitmachen und ins Geschehen eingreifen konnte. Allerdings kontrastierten die AR-Elemente mit einer äußerst altmodischen Performance und einem eher konservativen Verständnis von Livemusik und Theater. Die interaktiven Inseln blieben Spielereien, die durch die Luft schwirrenden Freischwinger rein dekorativ. Neu war nur die Technik, nicht die Ästhetik.

Seit kurzem arbeitet auch die Deutsche Oper am Rhein mit AR. Dort kann man sich eine App auf Smartphone oder Tablet laden, mit der man, scannt man nur einen QR-Code, die Mauern des Hauses sprengen und dahinter zum Beispiel dem Orchester beim Proben zuhören kann. Außerdem hat das Haus das Digitale Opernglas entwickelt, eine AR-Brille, dank der man sich Informationen über Stück, Musik und Solisten zuspielen lassen oder auch einen Blick in den Orchestergraben werfen kann. Das wichtigste Tool für eine zukünftige Nutzung aber dürften die Übertitel sein, die man sich einblenden lassen kann – bislang nur in den Sprachen Deutsch und Englisch; aber prinzipiell sind hier, anders als bei Texten über oder seitlich der Bühne, keine Grenzen gesetzt.

Allerdings wurde gerade diese servicefreundlichste Funktion im traditionell übertitelfreien Bayreuth nicht eingesetzt. Warum überhaupt das Experiment ausgerechnet jetzt, ausgerechnet in Bayreuth? „Kinder, macht Neues! Neues! Und abermals Neues!“, hat Richard Wagner gefordert und stieß nicht nur in der Musik revolutionäre Veränderungen an, sondern auch in der Bühnentechnik (zu seinen Lebzeiten ließ sich das, was ihm vorschwebte, kaum umsetzen). Und wenn man an den zehn kanonischen Werken, die in Bayreuth gespielt werden, nicht rütteln will, muss man eben in der Interpretation nach neuen Wegen suchen. Verständlich, dass die Festspiele und Jay Scheib – der nicht nur Regisseur ist, sondern auch Professor für Musik und Theaterkunst am Massachusetts Institute of Technology – da lieber vorangehen, als hinterherzutrotten.

Und das, obwohl AR noch ein paar Jahre braucht, bis es massentauglich wird. So wurden die von der Technikwelt mit großem Interesse erwarteten Apple Glasses, die wesentlich leichter und kabellos sein sollen, mehrfach verschoben; mittlerweile geht man von einem Start 2026 oder 2027 aus. Wer die technischen Entwicklungen auch nur grob verfolgt, ahnt, das mit einer solchen Einführung tatsächlich völlig neue Anwendungen und vermutlich auch Erzählstrategien möglich sein werden. Aber ob man dafür dann noch ein Opernhaus mit Guckkastenbühne braucht?