Opernkritik: Nicht nur die Revolution scheitert
Giacomo Meyerbeers „Le Prophète“ in der Deutschen Oper: Regisseur Olivier Py verfehlt jede szenische Pointe, aber musikalisch stimmt der Abend dann doch
In Revolutionen wird geklotzt, nicht gekleckert: Als sich der Wiedertäufer Jan van Leiden zum König krönen lässt, dröhnt eine Orgel, zum ohnehin großen Chor gesellt sich noch ein Kinderchor. Im Graben schichten sich majestätisch die Klänge, während von den Galerien Posaunen und Trompeten aufs Publikum schmettern. Das ist alles nur Staffage, um das dramatische Geschehen in akustischen Purpur zu hüllen: Jans Mutter Fidès erkennt ihren totgeglaubten Sohn, muss ihn aber verleugnen, weil der angebliche Sohn Gottes keine Mutter haben darf. Entsprechend wagemutig sind die Tonsprünge, die sie zu singen hat. Eine Wahnsinnsszene!
Sie gehört zu den Gründen, warum Giacomo Meyerbeers Grand Opéra „Le Prophète“ über den Aufstieg und Fall des Münsteraner Wiedertäufers Jan van Leiden 1849 zu einem Pariser Triumph wurde und ihren Siegeszug um die halbe Welt antrat. In jedem Akt spitzen sich Emotionen zu, gibt es radikale Offenbarungen, schäumt der Volkszorn. Gerade die Chorszenen hatte Meyerbeer – Eugène Scribes Libretto war da schon zehn Jahre alt – unter dem Eindruck der 1848er-Revolutionen noch einmal überarbeitet.
In ihrem Versuch, den Berliner Meyerbeer wieder fürs Opernrepertoire zurückzugewinnen, hat die Deutsche Oper nach „Vasco da Gama“ und „Die Hugenotten“ nun das – historisch sehr freie – Wiedertäuferdrama auf den Plan gesetzt. Wobei auch hier wieder das Problem mit Meyerbeer offensichtlich wird: Wenn man aus der Oper geht, hat man plötzlich Verdi-Melodien und Wagner-Motive im Ohr. Was Meyerbeer komponiert, ist oft wirkungsvoll, manchmal spektakulär, aber ohne letzte Dringlichkeit und Ohrwurmqualitäten.
Deshalb ist es so wichtig, dass bei Meyerbeer Musik und Szene Hand in Hand gehen, sich gegenseitig steigern. David Alden war das vor einem Jahr mit „Die Hugenotten“ überwiegend gelungen. Gegen dessen Ausstattungsund Szenenlust wirkt Olivier Pys „Prophète“-Inszenierung trist: Graue Vorstadtbettenburgen, Häuser ohne Fassaden, Industrieruinen bilden die Kulisse in Pierre-André Weitz‘ wandelbarem Bühnenbild. Py will erzählen, dass Aufstände immer sozial begründet sind. Ist ja richtig. Aber Meyerbeers feiner Steigerungs-Dramaturgie hilft er damit nicht weiter.
Der Intendant der Festspiele von Avignon fiel in Berlin bislang nur als Autor und Regisseur der völlig vermurksten Volksbühnen-Produktion „Die Sonne“ auf: Hübsche Jungs und ein Mädchen, verloren auf hysterischem Posten, zelebrieren halb nackt ihre Nicht-Probleme. Hier schließt sich der Bogen zu „Le Prophète“, wo Py 16 Tänzer kaum bekleidet über die Bühne schickt – als Söldner und Frauen von nebenan, als Kriegsgewinnler und Prostituierte. Über allem schwebt ein männlicher Engel mit Pappflügeln, der Schilder mit Kernbegriffen wie „Gnade“ und „Unglück“ hochhält.
Schlimm ist vor allem der Elendsästhetizismus, den Py im Ballett des dritten Akts veranstaltet – ein tänzerisches Kitschdesaster, in dem Menschen einander harmlos im Zeitlupen-Symbolismus prügeln, morden und vergewaltigen. Dafür gab’s heftige Buhrufe. Zugleich versemmelt Py jede szenische Pointe, leistet sich handwerkliche Fehler. Überraschende Wendungen werden behauptet, aber nicht gezeigt, und so taumeln die Sänger oft ziellos umher oder stehen fad herum.
Das ist insbesondere deshalb ärgerlich, weil der Abend musikalisch stimmt. Im Graben entfacht Enrique Mazzola einen magischen Klang, kostet mit seinem Riesenorchester die vielen Kontraste aus, lässt den Sängern auch genug Raum für ihre oft akrobatischen Arien. Der Wiedertäufer-Choral „Ad nos, ad salutarem undam“ fährt einem ins Mark, weil das Orchester knochenfahl klingt. Großartig, wie selbst die Krönungsszene noch durchhörbar bleibt! Auch der Chor der Deutschen Oper überwältigt mit stimmlicher Präsenz und feinen Schattierungen.
Für Sänger ist Meyerbeer, der Belcanto-Koloraturen mit großen dramatischen Bögen verbindet, eine Herausforderung. Gregory Kunde besitzt als titelgebender Jean de Leyde kraftvollen Glanz. Nur die Leichtigkeit fehlt ihm zuweilen. Dafür beeindruckt Clémentine Margaine als Mutter Fidès mit Energie und herrlichen Farbnuancen. Hier endlich scheint ein Mensch auf, ein zerrissenes Wesen zwischen Liebe und Hass. So wird sie zur heimlichen Hauptfigur der Oper, auch weil Meyerbeer Berthe nicht besonders viel Raum gibt. Elena Tsallagova singt sich souverän durch die Glücks- und Leidenskoloraturen, kann der Rolle aber keine Selbstständigkeit abtrotzen. Anders das exzellent besetzte Wiedertäufertrio: Derek Welton, Andrew Dickinson und Noel Bouley sind Verführer, Witzbolde und Wendehälse und verwandeln ihre Rollen souverän in Charakterminiaturen. Seth Carico hat da als Bösewicht Graf Oberthal weniger Spielraum, nutzt ihn aber zu beeindruckender Düsternis.
Anders als bei Meyerbeer und Scribe, wo am Ende alles in die Luft fliegt, triumphiert Oberthal bei Py. Wieder ist eine Revolution gescheitert. Nur ist es einem nach diesen viereinhalb Stunden egal.