Opernkritik: Arien, die unter die Haut kriechen
„Semele“ an der Komischen Oper: Starke Frauen und ein Orchester mit Strahlkraft, das eines Jupiters würdig ist
Eitelkeit kann tödlich sein. Jedenfalls im Fall der Königstochter Semele. Die Geliebte Jupiters lässt sich von der eifersüchtigen Juno einreden, sie müsse schon wegen ihrer Schönheit unsterblich werden und dafür den Obergott in seiner wahren Gestalt sehen. Die aber ist für Menschen unerträglich – Semele verbrennt.
Auf der Bühne der Komischen Oper ist von ihr nur ein dampfendes Häuflein Asche übrig. Offenbar hat vom Feuer auch der gesamte Palast etwas abbekommen: Verrußt und verkohlt zieht sich der barocke Festsaal von Natacha Le Guen de Kerneizon derart geschwungen und gestaucht in den Hintergrund, als hätte ihn die Hitze verbogen. Hier erzählt Barrie Kosky die Geschichte mehrerer starker Frauen. Semele ist zwar eitel, aber in erster Linie kompromisslos: Sie will nicht irgendeinen Königssohn – der zudem ein glatzköpfiger Trottel ist –, sondern den Gott, den sie liebt. Sie fühlt sich eingesperrt – und will raus, aus diesem Schloss, dieser Spiegelwelt, dieser menschlichen Haut, koste es, was es wolle. Jupiters Gattin Juno wiederum schreit Rache. Und Semeles Schwester Ino will den Schusselprinzen. Für ihre Ziele werfen sie einiges in die Waagschale – vor allem herrliche Arien, die einem unter die Haut kriechen. „Semele“ ist ein spätes Werk Georg Friedrich Händels von 1744, das ihn auf dem Höhepunkt seiner Kunst zeigt, als er längst keine Opern mehr schrieb, sondern Oratorien wie den „Messias“. Die Gattung allerdings zeigt sich vor allem in den ausufernden Chören, oft hochemotionale Kommentare des Geschehens – eine tolle Vorlage für die Chorsolisten der Komischen Oper, die hier so fein nuancieren, als würden sie nichts anderes als Barockmusik singen.
Was auch für das Orchester der Komischen Oper gilt, das sich unter Konrad Junghänels Leitung einmal mehr in einen historisch informierten Klangkörper verwandelt, der Händels Musik zu atmen scheint. Äußerst genau spüren sie den barocken Phrasierungen nach, trillern und juchzen lässig auch die kompliziertesten Verzierungen, lassen Klänge im Nichts verebben, um dann wieder mit Barock-Pauken und -Trompeten eine Strahlkraft zu entwickeln, die eines Jupiters würdig sind.
Junghänel ist nicht nur Alte-Musik-Spezialist, sondern einer, dessen Dirigat genau auf das abgestimmt ist, was auf der Bühne passiert. Bei der Premiere war die Herausforderung enorm, weil Nicole Chevalier in der Titelrolle mit einem Virusinfekt auf der Bühne stand, während im Graben Heidi Stober auf den Notfall wartete. Entsprechend rollte Junghänel klanglich den samtroten Teppich aus – und Nicole Chevalier, diese Ausnahmesängerdarstellerin extremer Gefühlslagen, wurde von Szene zu Szene stärker. Anfangs klang ihre Stimme ungewohnt verhalten, belegt, angeraut, hatte sie Intonationsprobleme. Aber dann fand sie einen leichten Ton, der bis in die Spitzen trägt, eine berührende Klarheit, die in einer nicht enden wollenden Koloratur-Bravour gipfelt. Da rastet das ganze Haus aus – und der Abend ist gerettet.
Gefährdet war er mehrfach: Eine Woche nach Probenbeginn musste Regisseurin Laura Scozzi die Arbeit wegen einer Erkrankung abbrechen. Intendant Kosky sprang ein. Weil er Zeit hatte. Aber vor allem, weil er es kann. Also: ein komplettes Opernkonzept aus den Ärmeln schütteln, sodass man allenfalls wenigen Szenen anmerkt, dass sie etwas luftiger gebaut sind als von diesem Meisterregisseur gewohnt.
Seine Figurenführung der hervorragenden Sängerriege ist grandios: Allan Claytons Jupiter besitzt einen honigweichen Tenor, den er betörend sicher einsetzt, damit lockt und preist – und die Zeit stillstehen lässt, als ihm aufgeht, dass er Semele töten wird. Trotz seiner Leibesfülle tänzelt er im Frack auf violetten Socken virtuos über die Bühne, wirft eitel seine Löwen-Lockenpracht in den Nacken, nähert sich Semele aber äußerst zärtlich. Kein Wunder, dass sie ihn haben will und keinen anderen. Ezgi Kutlus Juno zieht alle Racheregister einer eifersüchtigen Ehefrau. Wenn sie den Schlafgott Somnus aufweckt – Evan Hughes führt seinen sonoren Prachtbass ebenso selbstbewusst spazieren wie seinen Waschbrettbauch –, dann verschmelzen beider Stimmen zu purem Sex.
Ihre Vernichtungsfantasien beben intensiv, ihre Koloraturgewitter zucken durch den gesamten Körper. Selbst wenn sie nicht singt, beherrscht sie die Bühne – allein mit ihren Blicken. Auch Katarina Bradić als Ino und Nora Friedrichs als Iris setzen kleine Glanzlichter, während es Eric Jurenas‘ lyrischem Countertenor etwas an Schlagkraft fehlt.
Am Ende scheitert Semele an ihrer Leidenschaft wie an ihrer Selbstverwirklichung. Bleibt nur Asche? Nicht ganz: Aus ihr entsteigt ein winziger Bacchus, den Jupiter der Legende nach im Oberschenkel austrägt. Bei Kosky erscheint der Gott des Weins und der Lebensfreude nicht auf der Bühne, sondern ist die Oper selbst – in all ihrer sinnenfreudigen, berührenden, betören Pracht.