Interview: Daniel Barenboim: „Leise Musik ist gut für die Waldbühne“

Interview: Daniel Barenboim: „Leise Musik ist gut für die Waldbühne“

Dirigent Daniel Barenboim im Gespräch über das West-Eastern Divan Orchestra und Klassik unter freiem Himmel

von Georg Kasch und Felix Müller

Wir treffen den großen Dirigenten an einem ungewöhnlichen Ort: im Babylon-Kino am Rosa-Luxemburg-Platz. Das sei einfach günstig gelegen wegen seiner Folgetermine, erläutert er. Am 19. August wird er mit dem von ihm und Edward Said 1999 gegründeten West-Eastern Divan Orchestra wieder in der Waldbühne zu sehen sein. Es ist etwas warm im Foyer des Kinos. Barenboim legt noch kurz seine Krawatte ab, dann geht es los.

Maestro Barenboim, Sie gastieren im Sommer zum neunten Mal mit dem West-Eastern Divan Orchestra in der Waldbühne.

Daniel Barenboim: Ist es schon das neunte Mal? Das ist doch eine gute Zahl! Neun Sinfonien von Beethoven, neun von Bruckner, neun von Mahler …

Aber die akustischen Verhältnisse sind dort schwierig.

Ach, das ist inzwischen relativ gut, muss ich sagen. Man kann natürlich nicht behaupten, dass es im Freien so klingt wie in einem wunderbaren Saal. Aber für ein Konzert im Freien finde ich die Akustik gar nicht so schlecht.

Dirigiert man in der Waldbühne anders als beispielsweise in der Philharmonie?

Nein. Wissen Sie, man musiziert für das Musizieren, egal ob 2200 Leute in der Philharmonie sind oder 15.000 in der Waldbühne. Man spielt nicht anders – nur dann, wenn man alleine ist. Arthur Rubinstein erzählte mir einmal, dass er in London normalerweise im Hotel ein Klavier hatte, zum Üben. Es ist schrecklich, sagte er, wenn ich Frühstück bestelle, zu üben beginne und der Kellner kommt, dann fange ich unbewusst an, für ihn zu spielen!

Muss man zum Üben allein sein?

Ja. Ich stehe seit 68 Jahren auf der Bühne – mehr als ein paar Wochen –, und ich frage mich immer noch: Was ist anders, wenn Publikum dabei ist? Das merken wir jedes Mal, bei Opern, bei Konzerten. Man nimmt ein Stück, arbeitet, probiert. Aber wenn man mit dem Publikum in Kontakt tritt, kommt eine neue Dimension dazu – bei manchen Künstlern ist das Panik, bei manchen Freude. Es verändert sich etwas. Und ich kann nicht erklären, warum.

Jedes Jahr finden Sie sich mit dem Orchester zu zwei oder drei Tourneen zusammen. Ist es schwierig, sich nach langen Pausen in den Proben zu einem Klang zusammenzufinden?

Die langen Pausen sind nicht das Pro­blem. Schwierig ist etwas anderes. Wenn man das West-Eastern Divan Orchestra hört, merkt man sofort, dass es ein sehr hohes Niveau besitzt. Aber wir haben im Orchester internationale Solisten, Musiker, die in sehr guten Orchestern spielen, bei uns in der Staatskapelle, beim BR-Sinfonieorchester, an der Met in New York. Es gibt auch Musiker, die in weniger guten Orchestern spielen – und die Studenten von der Akademie. Wir haben also drei bis vier Niveaustufen. Bis das alles zu einer Einheit wird, dauert es. Komischerweise kann man im Divan dennoch ein sehr hohes Niveau erreichen, aber man muss anders dafür arbeiten als zum Beispiel mit der Staatskapelle. Besonders bei den Streichern.

Warum?

Eugene Ormandy, der fast 45 Jahre lang Chefdirigent in Philadelphia war, sagte einmal: Streicher kann man trainieren, Bläser muss man kaufen. Es gibt eine Oboe, die spielt, erste oder zweite, das ist egal, die kann’s oder kann’s nicht. Aber wenn Sie 16 erste Geigen haben, dann müssen Sie die auf ein gemeinsames hohes Niveau und in eine Homogenität bringen. Das habe ich beim West-Eastern Divan Orchestra gelernt. Bis heute erstaunt es mich, dass uns das immer wieder gelingt.

In diesem Jahr sind neben Tschaikowskys Violinkonzert auch zwei Debussy-Werke dabei, „Prélude à l’après-midi d’un faune“ und „La Mer“. Muss man dem deutschen Publikum Debussy noch nahebringen?

Nicht nur dem deutschen! Die Welt hat bis heute nicht verstanden, welchen Platz Debussy in der Entwicklung der Musik einnimmt. Das klingt arrogant, aber das meine ich nicht so. Debussys Musik ist wie keine andere. Er war vielleicht der größte Modernist. Wagner ist zu seiner Modernität durch Entwicklung gekommen, hat die Harmonien und Instrumentierungen bis zu „Tristan“ und „Götterdämmerung“ weiterentwickelt. Debussy aber wollte von Anfang an eine neue Musik schaffen, nicht mitteleuropäisch klingen. Die Harmonien, die Klänge sind anders, neu.

Ist es eine gute Idee, Debussys flirrende, filigrane Musik open air zu spielen?

An einem Ort wie der Waldbühne ist leise Musik leichter zu verstehen und zu spielen als laute. Für laute Musik brauchen Sie einen Rahmen, um gegen ein Dach und gegen Wände anzuspielen. Vor allem aber machen wir Debussy, weil wir in den fast 20 Jahren, seit es das Orchester gibt, sehr wenig französische Musik gespielt haben, und ich das wichtig finde für die Musiker.

Nach der phänomenalen Martha Argerich ist in diesem Jahr Lisa Batiashvili die Violin-Solistin. Was macht sie so besonders?

Das ist eine tolle Geigerin und eine wunderbare Musikerin. Sie hat eine rare, aber sehr deutliche Balance gefunden zwischen Intimität und großer Projektion. Sie beherrscht das sehr gut, das finde ich sehr schön.

Im West-Eastern Divan Orchestra spielen palästinensische Musiker an der Seite von israelischen. Gibt das nicht oft Reibereien, wenn politische Fragen diskutiert werden?

Ich erinnere mich gut an den Gazakrieg im Jahr 2014. Da war die Stimmung anfangs schwierig. Es gab Kollegen, die mich persönlich kontaktiert haben und sagten: Wir haben keine Lust, mit den anderen zu spielen. Ich habe ihnen gesagt: Kommt, wir machen mit dem gesamten Orchester eine Diskussion. Wenn ihr danach noch nicht spielen wollt, dann werde ich Verständnis haben. Sie sind alle gekommen und haben angefangen zu diskutieren. Einige Musiker haben Verwandte in Gaza. Und in Israel, in der Armee und so weiter. Ein Palästinenser sagte: Ich bin schon über zehn Jahre in diesem Orchester und dachte, ich habe Freunde auch unter den Israelis. Aber ich sehe, dass das nicht der Fall ist. Ich fragte, warum er das glaube. Er sagte, er spüre keine Sympathie. Von der anderen Seite kam genau das Gleiche. Einer fragte: Was denken Sie? Ich habe gesagt: Ich denke, ihr liegt alle falsch. Man kann von einem Israeli nicht erwarten, dass er Sympathie empfindet gegenüber der anderen Seite. Was man aber haben muss, ist das, was man in England „compassion“ nennt. Das muss man haben. Das ist keine emotionale, sondern eine moralische Frage. Eine moralische Haltung muss man haben.

Haben Sie den Eindruck, dass der Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft stärker wird?

Ich befürchte ja. Wieviel stärker, weiß ich nicht. Ich bin Jude, ich lebe 27 Jahre in Deutschland. Das konnte ich nur, weil ich immer der Meinung war, dass die meisten Deutschen sich mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Deswegen gucke ich mit Aufmerksamkeit auf die Entwicklungen. Ich habe das Gefühl, dass viele Deutsche ein Gefühl der Verantwortung gegenüber den Juden haben. Das weiß ich zu schätzen. Und wenn das weggeht, werde ich auch gehen.

Ihr Kollege Sir Simon Rattle wird sich im Juni als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker verabschieden. Möchten Sie ihm auf diesem Wege einen Gruß zurufen?

Ich werde Simon Rattle hier in Berlin als Kollegen vermissen. Ich war immer sehr froh darüber, wenn ich in die Philharmonie gehen konnte und ihn hören und sehen konnte. Und ich wünsche ihm für seine Zukunft in England nur Gutes.

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