Rückblick: So war die Berliner Theater-Spielzeit
Die gute Nachricht zuerst: Berlin bleibt die Hauptstadt des deutschsprachigen Theaters. Mit drei Einladungen und acht Nominierungen dominierten Berliner Häuser das Theatertreffen im Mai. Und die heftige Debatte um die Volksbühne hat gezeigt: Theater wird an der Spree noch diskutiert, auch von Menschen, die kein Abo haben.
Auf den zweiten Blick auf die Saison 2017/18 aber sieht die Sache nicht ganz so rosig aus. Immerhin gibt es einen klaren Klassenprimus: die Schaubühne. Längst hat sie ihren Schwerpunkt, ihre Ästhetik, ihr Publikum gefunden. Man kann über Details streiten, auch bei Thomas Ostermeiers „Rückkehr nach Reims“, etwa darüber, ob die Suche des französischen Soziologen Didier Eribon nach der heutigen Arbeiterklasse in einem Tonstudio richtig aufgehoben ist. Oder ob Ostermeier in „Im Herzen der Gewalt“ die brisanten Themen – Homophobie, Fremdenhass – nicht zu schön erzählt, um wahr zu sein. Aber es bleiben gut gebaute Abende mit tollen Schauspielern.
Für richtig politisches Theater ist an der Schaubühne ohnehin Milo Rau zuständig. Sein „General Assembly“ war der mutige Versuch, Theater und Realpolitik miteinander zu verschmelzen – Ausgang offen. „Lenin“ wiederum zeigt geradezu altmodisch, dass der Zweck nicht die Mittel heiligen darf. Währenddessen ist Herbert Fritsch erstaunlich geräuschlos am Lehniner Platz angekommen – als wäre er nie woanders gewesen. Kleinere Abende wie „Shakespeare’s Last Play“ und „fontane.200“ zeigten, wie man Jux mit dem ein oder anderen tieferen Gedanken kombiniert. Das alles wird von einer rekordverdächtigen Auslastung von 97 Prozent gekrönt.
So etwas gelang früher nur dem Berliner Ensemble unter Claus Peymann. Dessen Nachfolger Oliver Reese dürfte nach seiner ersten Spielzeit immer noch ordentliche, aber keine glänzenden Zahlen vorlegen können. Was nicht weiter schlimm ist, denn erstens bedeutet ein Intendanzwechsel zunächst immer auch Schwund. Und zweitens kommt es nicht auf die Zahlen, sondern auf die Qualität an. Aber auch da konnte das BE einen nicht so richtig vom Hocker reißen. Nur zwei Premieren ragten heraus: „Ballroom Schmitz“ von Barbara Bürk und Clemens Sienknecht ist ein quietschkomisches Vergnügen. Und Frank Castorf lieferte mit „Les Misérables“ den Beweis ab, dass er auch ohne Volksbühnen-Abschiedswut und mit teils neuen Schauspielern starke Abende bauen kann. Mutig auch der Versuch, mit Thomas Bo Nilsson und dem inklusiven RambaZamba-Theater immersiv die schwüle, uneindeutige Welt des „Dekameron“ erstehen zu lassen. Daneben aber gibt es (zu) viel Routine und Eindeutigkeitstheater.
Ob das reicht, um in direkter Konkurrenz zum Deutschen Theater zu bestehen? Das macht ja zunehmend selbst auf Volksbühne, hat ab Herbst René Pollesch im Programm und Sophie Rois im Ensemble. In dieser Spielzeit allerdings war für den Volksbühnen-Touch noch Sebastian Hartmann verantwortlich, der James Joyce’ Jahrhundertroman „Ulysses“ in banale Bilder und Episoden auflöste, in denen nur Ulrich Matthes’ und Judith Hofmanns herrliche Monologe leuchteten – und zum Saisonende mit seiner Sex- und Schweiß-Version des Prostituiertenstücks „In Stanniolpapier“ bei den Autorentheatertagen für einen veritablen Skandal sorgte, weil er statt einer Textinterpretation stammelnde, grabbelnde Nacktheit zeigte.
Merkwürdig, dass mit Hartmann, Daniela Löffner, Jan Bosse, Ivan Panteleev und Karin Henkel lauter Regisseure am DT arbeiten, die (teils wiederholt) beim Theatertreffen waren, aber hier am Haus gerade wenig Glanz verbreiten. Viele Abende sind ordentlich erzählt, ohne je richtig abzuheben. „Rom“, „Die Zofen“, „Der Hauptmann von Köpenick“, „Sommergäste“ – sie alle haben ihre Momente, bleiben aber weit hinter dem zurück, was das Haus leisten könnte, käme mal wieder einer wie Jürgen Gosch oder Dimiter Gotscheff und küsste es wach. Vielleicht Rosa von Praunheim? Dessen anarchische Revue „Jeder Idiot hat eine Oma …“, mit der er sich selbst zum 75. Geburtstag gratulierte, bebt so voll Lust und Leben, dass viele andere Produktionen daneben ziemlich blass und bemüht erscheinen.
Auch das Gorki präsentiert eine durchwachsene Bilanz. Auf der Habenseite stehen starke Selbstermächtigungsabende wie Yael Ronens „Roma Armee“ mit seiner an die Rampe drängenden Kraft und „A Walk On The Dark Side“ über eine bürgerliche Selbstdemontage voll unbändiger Spiellust (vor allem von Dimitrij Schaad und Jonas Dassler). Sebastian Nübling sorgte mit dem dritten Teil von Sibylle Bergs bissiger Frauenquartett-Serie „Nach uns das All“ für einen weiteren Publikumsliebling, ebenso Christian Weise mit seiner witzig-schrägen „Elizaveta Bam“. Der Abend demonstrierte, wie großartig das Exil-Ensemble ist, wenn es auf den richtigen Stoff losgelassen wird. Dagegen zeigten enttäuschende Produktionen von Nurkan Erpulat, Oliver Frljić und András Dömötör, dass eine engagierte Haltung allein nicht satt macht.
Über die Volksbühne ist so viel geschrieben worden im vergangenen Jahr, dass sich ein Rückblick fast erübrigt. Muss man wirklich noch einmal festhalten, dass Chris Dercons mit Großsprech und Nebelkerzen begleitetes Schauspielprogramm gescheitert ist? Wie arg seine Eröffnung am Rosa-Luxemburg-Platz mit Beckett und Sehgal wegsuppte? Wie müde Albert Serras „Liberté“ geriet, trotz Wahnsinnsbühne und Weltstars? Allerdings strahlt es aus den Trümmern hell: Susanne Kennedys zitatreiche Zukunftsvision „Women in Trouble“ wird ebenso in die nächste Spielzeit gerettet wie ihre „Selbstmord-Schwestern“ – beides Produktionen, die zum Interessantesten der Saison gehörten.
Und die freie Szene? Die schwächelte 2017/18. She She Pop, seit dem unsterblichen „Testament“ ein Publikumsliebling, konnten mit ihrem Erben-Chorstück „Oratorium“ am HAU nicht so richtig rocken. Gob Squad erging es ähnlich mit ihrem selbstbezüglichen Dorian-Gray-Abend „Creation“. Und Showcase Beat Le Mot versenkte ihre Weltall-Fantasie „Super Collider“ völlig. Thorsten Lensing versammelte in „Unendlicher Spaß“ lauter Großschauspieler, die prachtvoll aneinander vorbeispielten. Als eine Überraschung erwies sich hingegen „Global Belly“ von Flinn Works in den Sophiensälen über Leihmutterschaft. Wichtiges Thema, gut recherchiert, vielfältig im Ton, genau in der Argumentation. Mehr davon, nicht nur in der freien Szene! Dann wird aus einer durchwachsenen schnell eine glänzende Saison.