Theaterkritik: Aufbruchsignal für die Volksbühne

Theaterkritik: Aufbruchsignal für die Volksbühne

Das Stück „Drei Milliarden Schwestern“ ist eine große Opern-Parodie – und auch ein Blick in die Zukunft des Hauses.

Die Lage ist ernst: Ein Komet rast auf die Erde zu und droht, alles Leben auszulöschen. Und was machen die „Drei Milliarden Schwestern“? Sie trinken Tee, langweilen sich, gehen sich einander auf die Nerven. Schon in Anton Tschechows Tragikomödie „Drei Schwestern“ passiert ja nicht viel. Aber Bonn Park treibt das in seiner Parodie, die sowohl Tschechow als auch Michael Bays Weltuntergangsfilm „Armageddon“ durch den Fleischwolf dreht, noch einmal auf die Spitze. Einmal reiht Mascha endlose Adjektive aneinander, um das „verfluchte, unerträgliche, beschissene, bescheuerte, blöde“ Leben zu beschimpfen, und Zelal Yesil­yurt schleudert ihre Worte so bebend Richtung Parkett, dass man sich spätestens hier an die Castorf’sche Volksbühne erinnert fühlt.

Das ist natürlich Programm. Denn die Entscheidung – seine erste inhaltliche Setzung als Volksbühnenintendant, der das Haus nach der Dercon-Katastrophe konsolidieren soll –, den Jugendclub P14 auf die große Bühne zu lassen, knüpft direkt an die Castorf-Jahre an. P14 ist ja nicht irgendein Theaterjugendclub, sondern seit 1993 Spielwiese und Trainingslager im Geiste der großen Volksbühne, mit Produktionen, die oft ebenso experimentell, wütend, verspielt und grenzsprengend waren wie die des Mutterhauses.

Der Abend ist auf ziemlich vielen Ebenen unterhaltsam

Zu den P14-Sprösslingen gehört auch Bonn Park, der längst als Dramatiker erfolgreich ist. Mit seinen Stücken räumte er Preise beim Heidelberger Stückemarkt und beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens ab – und blieb P14 auch als Autor verbunden mit Texten wie „Molière’s HORNY“ oder „SIMBA – Prinz von Dänemark“.

Jetzt also „Drei Milliarden Schwestern“ auf der großen Bühne. Dort haben die Ausstatterinnen Leonie Falke und Laura Kirst den Rundhorizont weit an die Rampe gezogen, sodass nur noch eine relativ schmale, halbrunde Schräge bleibt, auf der die Schauspielerinnen mit riesigen Plastikhaar-Aufsätzen herumhocken und hin und wieder in Bodenklappen verschwinden. Hin und wieder spuckt einer dieser Kunststoff-Perückenköpfe Konfetti aus. Sonst passiert nicht viel: Nebel wabert.

Dazwischen gibt es zwei kurze Promi-Auftritte, die einzigen Erwachsenen auf der Bühne. Einmal tanzt Anne Tismer kommentarlos und ziemlich lässig zu ihrem Gettoblaster. Einmal erscheint Dagobert, der mal ziemlich berühmt war mit seinem Schlager „Ich bin zu jung“, nun neben den drei Milliarden Schwestern ziemlich alt aussieht und singt: „Du bist allein und so wird es auch bleiben.“ Das sind hübsche Details. Aber der Witz des Abends entspringt vor allem den Wortkaskaden, die die Schauspielerinnen – es sind alles Frauen – im Stile der großen Volksbühnendiven brüllseufzen. Besonders Lioba Kippe als Irina und Charlotte Brandhorst als Werschinina bringen es darin zur Perfektion. Hin und wieder blitzt auch echte Verzweiflung durch all die Langeweile, die nur selten vom Katastrophenspektakel des nahenden Kometen unterbrochen wird. Einmal ruft Irina: „Nichts habe ich getan! Das wart ja alles ihr! Ihr habt das alles verbockt!“ Also wir, die Erwachsenen. Was ist schon das Nahen eines Kometen angesichts all der anderen Probleme auf der Erde?

Daneben ist der Abend auch eine große Opern-Parodie. Komponist Ben Roessler zitiert sich in seiner Partitur durch alle Opernkonventionen, besonders witzig zu Beginn des zweiten Akts, wo es aus dem Graben nach Rossini und Mozart klingt und auf der Bühne plötzlich auf Italienisch gesungen wird. Aber auch Anleihen bei Verdi, Strauss und Musical gibt es reichlich, die ohnehin immer wieder in sämige Filmmusiksequenzen münden.

Das Jugendsinfonieorchester Berlin am Georg-Friedrich-Händel-Gymnasium nimmt die vielen Stilwechsel sportlich. Vor allem die Holzbläser sorgen für fein herausgearbeitete Details und die Perkussionsabteilung für genau gearbeitete rhythmische Akzentuierungen, während das Blech zuweilen wie ein Posaunenchor röhrt. Knut An­dreas am Pult hat zudem alle Hände damit zu tun, die Abstimmung zur Bühne zu koordinieren. Dort stürzen sich die Schauspielerinnen waghalsig in ihre liedhaften Partien und klingen dabei oft mehr nach Brecht als nach großer Oper. Oder nach Pop, mit dem Roessler ebenfalls liebäugelt: Die Version des Afroman-Klassikers „Because I get high“ (mit lässigem Bass-Continuo) ist zum Schreien komisch.

Überhaupt ist der Abend auf ziemlich vielen Ebenen sehr unterhaltsam, auch wenn Park als Regisseur sicher noch mehr hätte rausholen können. Aber es macht Spaß, den vielen Volksbühnen-Zitaten nachzuspüren. Dennoch entsteht hier etwas Eigenes, Neues, Junges. Und das ist dann vielleicht der größte Coup dieses Neustarts: ein liebevoller Blick zurück, aber ein noch entschiedenerer nach vorn. So jung war das Publikum nicht mal zu Castorf-Zeiten. Ob „Drei Millionen Schwestern“ als Repertoire-Stück funktionieren, muss sich zeigen. Als Aufbruchssignal taugen sie allemal.