Opernkritik: Unterschichtspanorama
In Amsterdam findet Regisseurin Katie Mitchell in Jenůfa zu einer zutiefst menschlichen Lesart, die voller verzweifelter Liebe pulsiert. Dazu wird herausragend gesungen und gespielt.
So sehr Carmen war Jenůfa selten: In Bleistiftrock und engem T-Shirt arbeitet sie als Sekretärin in der Mühle, die hier ein mittelständisches Unternehmen der Gegenwart ist. Überall auf der Bühne in Cinemascope-Breite wuselt es hyperrealistisch, im Büro und im Aufenthaltsraum; selbst auf dem Klo, das beide Räume voneinander trennt. Wie sich Jenůfa zurechtmacht, scherzt, flirtet, auf High Heels durch die Räume stolziert, genervt mit den Augen rollt und ihre Haare nach hinten wirft, zeigt, dass sich da jemand seiner äußerlichen Reize durchaus bewusst ist – und auch austeilen kann.
Leoš Janáčeks 1905 uraufgeführte und erst Jahre später erfolgreich gewordene Oper „Jenůfa“ spielt in einer ländlichen Umgebung fern jeder Metropole. Die Titelfigur gehört eher zu den sozialen Randgestalten, wie die Kostelnička im ersten Akt („Genau so goldnes Haar“) singt: Das Geld der Familie hat Jenůfas saufender Vater durchgebracht. Was sie daneben noch durchgemacht hat, lässt sich in der Oper allenfalls erahnen – Gabriela Preissová hatte das im zugrundeliegenden Drama von 1890 genauer ausgearbeitet.
Es ist diese Frauengeschichte, die Mitchell interessiert. Also setzen sie und ihre Ausstatterin Lizzie Clachan an De Nationale Opera Amsterdam Stiefmutter und -tochter im zweiten und dritten Akt in einen Trailer, jene Mischung aus Bungalow und Wohnwagen, in die US-Amerikaner ziehen, die sich kein Haus leisten können. Das Überraschende ist: Das Unterschichtspanorama geht auf, weil es kein Voyeurismus bleibt. So, wie sich die Beteiligten nach einem – jedenfalls bei der zweiten Vorstellung – rumpeligen Start musikalisch bald einpegeln, gewinnt auch das Wimmelbild an Kontur und schöpft gerade aus den Details seine Kraft. Wenn Laca breitbeinig im Blaumann den Rauchmelder repariert, ahnt man, dass er zu viel Testosteron im Blut hat, um sich von Jenůfa ewig abwimmeln zu lassen. Sie räumt mit routinierter Beiläufigkeit den Schreibtisch auf, fährt seelenruhig Computer herunter und streckt ihm auch noch den Mittelfinger hin, weil er sie ständig anmacht – und sie nicht weiß, dass er den Cutter schon in der Hand hält.
Außerdem hat sie wirklich andere Probleme. Noch während des kurzen Vorspiels stürzt sie auf die Toilette, um sich zu übergeben; später will Števa ihr hier nur schnell an die Wäsche, während sie ihm klarzumachen versucht, dass das mit der Ehe bald was werden muss. Wenn ihre Stiefmutter in die Party platzt, die hier alle spontan feiern, weil Števa nicht zum Militär muss, zerschneidet Evelyn Herlitzius auch stimmlich jedes Hochgefühl mit einem fahlen Klang, der in Sachen Freudlosigkeit mit ihrem herben Äußeren korrespondiert.
So trägt alles, was auf der Bühne geschieht, dazu bei, dass man jede und jeden Einzelnen in ihrer tragischen Verstricktheit begreift. Es gibt keine Bösewichte; nicht einmal die bigotte Dorfgesellschaft kommt hier so richtig schlecht weg. Selbst den Mord, den die Kostelnička an Jenůfas heimlich zur Welt gebrachtem Kind verübt, kann man zu einem Stück weit nachvollziehen, so egoistisch, feige und hasenfüßig sind die Männer, die sich winden und Ausflüchte suchen. Soll Jenůfa mit ihrem Kind etwa für immer im Versteck unter der Spüle hausen? Gibt es für die Kostelnička einen anderen Weg, Jenůfa ein verpfuschtes Leben wie das eigene zu ersparen?
Dass diese zutiefst menschliche Lesart aufgeht, die voller verzweifelter Liebe pulsiert, liegt wesentlich an der Besetzung, die vokal wie darstellerisch Maßstäbe setzt. Wie Herlitzius die verschiedensten Fahlheits-Abstufungen mit ihrem hier immer etwas angeschmirgelt klingenden Sopran auslotet, ist ein Ereignis! In herzzerreißenden Bögen bestürmt sie die Männer mit harter Diktion, steuert trotz aller Glut auf perfekt intonierte Pianissimi zu. Annette Dasch macht die psychologische Entwicklung der Jenůfa nicht nur sicht-, sondern auch hörbar. Aus ihrem aufgekratztem Parlando mit gefährdeten Höhen wird eine lyrisch zurückgenommene Innigkeit, aus der ihr Schmerz grell aufflackert. Zum Schluss, als aus der selbstbewussten Dorfschönheit des Anfangs eine mehrfach gebrochene Frau geworden ist, die sich am Wunder ihrer verkorksten Liebe aufrichtet, findet Dasch zu einer warm glühenden Intensität.
Wie auch Pavel Černochs Laca, der Jenůfa am Anfang fast vergewaltigt, dann entstellt. Er gewinnt seinem vor allem in der Mittellage kernig männlichen Tenor zunehmend eine berührende Weichheit ab, eine verzweifelte Zärtlichkeit. Hanna Schwarz, über Jahrzehnte prägender Mezzo in Hamburg und Bayreuth, umreißt mit wenigen Strichen eine ziemlich lebenslustige Stařenka Buryjovka. Selbst eine so kleine Nebenrolle wie die Rychtářka wird bei Francis van Broekhuizen zur vokal nuancierten Charakterstudie.
Was übrigens auch für den Chor gilt, der anfangs noch starke Abstimmungsschwierigkeiten hat, im Finale aber nicht nur genau spielt, sondern auch herrlich singt – und so wesentlich zur überragenden Wirkung des dritten Akts beiträgt. Auf den läuft bei Tomáš Netopil, GMD des Aalto Theaters Essen, alles zu. Denn nachdem ihm am Anfang der Laden fast auseinanderfliegt, nimmt er sich zurück und damit auch die Kontraste im Nederlands Philharmonisch Orkest, das sich warm, aber wie auf Sicht durch die Partitur tastet. Die motivische Verwendung des Xylophons etwa geht völlig unter. Nur wenn Janáčeks Musik volksliedhaft wird, Tanzstrukturen aufgreift, sie auch mal ins Alptraumhafte treibt, hört man, wie genau es unter der Oberfläche pulsiert.
Im dritten Akt aber ist alles anders: Vom Geständnis der Küsterin an steigert sich die Klangintensität, bis das Wogen und Weben wagnersche Intensität erreicht, während Jenůfa und Laca einander als Partner annehmen. Was auch deshalb so unmittelbar berührt, weil es darstellerisch so fein gearbeitet ist. Nichts kündet hier vom Kitsch, der Mitchell in ihren jüngsten Theaterarbeiten unterlief. Dieser Abend ist wahr. Die Amsterdamer bejubelten das im Stehen.