Theaterkritik: Ein Triumph für Stefanie Reinsperger
Ersan Mondtag inszeniert am Berliner Ensemble Brechts Drama als böses Märchen, das sich gegen Ende in die Länge zieht.
Was ist Kunst? „Das“, ruft Stefanie Reinsperger als Baal. Und zwar „keine darstellende, sondern plastische Kunst, zum Anfassen!“ Da hat sie bereits – „das hat doch Hand und Fuß“ – lebensechte Körperteilattrappen durch einen riesigen Fleischwolf gedreht. Jetzt manscht sie aus dem grauen Ergebnis ein Männlein, das aussieht wie ein trauriger Schneemann.
Ist das Kunst? In seinem Frühwerk „Baal“, entstanden 1918/19 und mehrfach überarbeitet, knallt uns Bertolt Brecht einen Künstlertypen als Zumutung hin: Verfressen und versoffen, verschleißt er die Frauen in Reihe. Seine Gedichte trägt er für einen Schnaps vor; macht er Verträge, bricht er sie. Am Ende ermordet er sogar seinen Freund.
„Baal“ ist ein Antiwerk: gegen hohles Pathos, gegen Erlösungshoffnung, gegen das verlogene Bürgertum. Baal ist „asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft“, schrieb Brecht. Am Berliner Ensemble pinselt Ersan Mondtag entsprechend die meisten Nebenfiguren als Karikaturen hin. Brechts Kneipenbesucher und Holzfäller sind hier ein bunter Spießerhaufen mit Knatterton und abgezirkelten Pathosgesten. Ein wenig erinnern die Typen an die BE-Inszenierungen der Ära Claus Peymann – nur in bunt. Karikaturen, die man sich als Zuschauer wunderbar vom Leib halten kann.
Bei Mondtag, der wie immer auch sein eigener Ausstatter ist, bekommt die ganze „Baal“-Welt etwas Märchenhaftes. Seine viergeteilte Drehbühne sieht aus wie ein dunkelböses Bilderbuch: Expressionistisch drängen sich die hohen Häuser der Kleinstadtgasse, rot glüht die Varieté-Kneipe, karg recken sich die Bäumchen im Wald in den fahlen Himmel, düster dräut die Kapelle, in der Baal einen Hermaphroditen anbetet, eine gehörnte Barbiepuppe mit Penis.
Den schlägt Baal irgendwann einmal ab. Warum? Das bleibt ebenso unklar wie die Frage, warum viele Rollen hier gegen ihr Geschlecht besetzt wurden. Oder warum die Spießbürger unter ihren panzerartigen Kostümen alle weibliche Hautanzüge tragen. Weil das Baals Frauenverschleiß und die Frauenverachtung der gezeigten Gesellschaft ins Absurde treibt? Und warum liegt an der Rampe ein Zebra?
Mondtags Theater ist immer dann am stärksten, wenn Bilder, Klänge, Atmosphären regieren. In „Baal“ aber wird viel geredet, drei Stunden lang. Das zieht sich! Die einzige, die das pathossatte Textdeklamieren durchbricht, ist Reinsperger. Ihr Baal ist ein Spieler, einer, der im Sekundentakt Haltungen und Stile wechselt. Was kümmert ihn sein Geschwätz von gestern? Ein Entertainer auch, der hinreißend intensiv seine Gedichte singt zu Eva Jantschitschs an Kurt Weill erinnerndem Soundtrack. Der auch mal das Publikum beschimpft, uns plötzlich das vor Mitleid und Weltschmerz greinende Kind zeigt, nur um im nächsten Moment schon wieder breit grinsend an die Rampe zu schnellen. Ein Zirkuspferd, ein Gesellschaftsclown.
Reinsperger ist der große Trumpf dieses Abends. Baals Künstler-Credo: Ich darf alles, solange ihr so seid, wie ihr seid – und ihr mich nicht dran hindert. Aber nach der Pause ist es, als habe ihr jemand den Energiestecker gezogen. Mühsam schleppt sich die Inszenierung, die längst alle ihre Bilder hergezeigt hat, ins Finale. Was darf ein Künstler? Alles. Nur nicht langweilen.