Essay: Die Ära der Frauen
Hosenrollen – Warum Schauspielerinnen heute so oft Männerfiguren spielen
„Er ist allein“, raunt es immer wieder, als sei das schon eine Erklärung für alles. Er, das ist Hamlet, ein schmächtiger Jüngling. Oder doch eine junge Frau? Das wird nie thematisiert in Johan Simons‘ Bochumer Hamlet-Inszenierung. Es ist einem auch sehr schnell sehr egal, weil Hamlet von Sandra Hüller gespielt wird, so hinreißend durchsichtig und verschlossen zugleich, dass einem dieses strahlende Rätsel vollkommen reicht. Zumal sie so allein gar nicht ist: Auch die Totengräber sind weiblich besetzt.
Hüller im „Hamlet“, das ist nur ein Moment von vielen, von einer ganzen erdrutschartigen Bewegung, die in dieser Saison ihren Lauf zu nehmen scheint. Frauen in Männerrollen ist keine Mode, kein Trend, es steht für einen Paradigmenwechsel. Am Berliner Maxim Gorki Theater wird Svenja Liesau in Kürze als Hamlet aufspielen. In Memmingen hat Julia Prechsl Karl und Franz in Schillers Räubern weiblich besetzt.
Ähnlich verfuhr Ersan Mondtag in Köln mit den Räubern, in seiner Baal-Inszenierung am Berliner Ensemble übernahm Stefanie Reinspergers die Titelfigur und daneben spielten Judith Engel und Kate Strong mit Johannes und Eckart weitere zentrale Männerrollen. Vernon Subutex war an den Münchner Kammerspielen mit Jelena Kuljić ebenso eine Frau wie Hannah Ehrlichmanns „Woyzeck“ in Schwerin. In Platonowa in Hannover verwandelte sich Tschechows Titelfigur bei Viktoria Miknevich gleich ausgewiesenermaßen in eine Frau – lesbische Beziehung inklusive. So, wie es Virginia Woolfs gerade mehrfach auf die Bühne gebrachter märchenhafter Transgender-Held „Orlando“ vormacht, etwa an der Berliner Schaubühne oder in Hannover.
Bei Törleß in Mainz wurde das Jungsinternat (der Romanvorlage von Robert Musil) rein weiblich bevölkert: kleine rundliche Pubertätsteufelchen, die sich unter der Leuchtschrift „boy’s don’t cry“ die Hölle heiß machen. Leonie Böhm ließ an den Münchner Kammerspielen Räuberinnen als zunächst in Ego-Konflikten gefangene, dann bald utopische Gemeinschaft in die böhmischen Wälder ziehen.
Hier dringt eine Besetzungspolitik in die Staatstheater ein, die sich in der frauendominierten Freien Szene mit oft rein weiblichen Teams und ohne Repertoire-Druck längst durchgesetzt hat. Jüngstes eindrückliches Beispiel: Tanz von Florentina Holzinger, in dem eine überwältigende Performerinnenschar das romantische Ballett von hinten aufrollt und durch den männlichen Blick geprägte Stereotype (wie die Sylphide und die Hexe) umdeutet.
Allein sind sie also schon lange nicht mehr. Aber woran liegt es, dass gerade jetzt in großer Schar Schauspielerinnen Männerrollen übernehmen?
Erstens: Weil sie es können.
Zweitens: Weil im Zuge des gesellschaftlichen Wandels der Geschlechterverhältnisse eine traditionelle Begrenzung nicht mehr hinzunehmen ist. Männerrollen dominierten jahrhundertelang den Kanon. Wenn man durch die Klassiker blättert, auch die modernen, dann erschließt sich, warum in Schauspiel-Ensembles lange Zeit Männer die Mehrheit bildeten. Denn wenn biologisches und dargestelltes Geschlecht übereinstimmen sollen, braucht man für die Unzahl an männlichen (Neben-)Rollen genug Personal. Ein dramatisches Ungleichgewicht, das sich überlebt hat.
Drittens: Weil obendrein die meisten tradierten Frauenrollen nicht besonders viel hergeben. Beispiel Ophelia: Gilt als eine der großen Frauenfiguren, hat aber weder viele Szenen noch viel Text. Zentrale Momente wie die offensichtlich existierende Flirt- oder Liebesbeziehung zu Hamlet bleiben im Text nur angedeutet und finden ebenso hinter den Kulissen statt wie ihr berühmter Selbstmord. Versuche, das in die Pantomime zu verlegen (wie bei Leander Haußmann) gibt es häufiger; Johan Simons‘ Weg, Ophelias Rolle aufzuwerten, indem er sie mit Horatio verschmilzt (und wie Hamlet androgynisiert), sie also selbst tatkräftig, wortreich und gedankenvoll darzustellen, wirkt vielversprechender, wenn auch dramaturgisch riskanter.