Theaterkritik: Erotik in der Quarantäne
Kirill Serebrennikov inszeniert Boccaccios „Decamerone“ am Deutschen Theater
So schnell ist das Corona-Virus im Theater angekommen: Auf der Bühne legen sich die einen Mundschutze an, andere reinigen sich detailversessen mit Feuchttüchern. Ob das in diesem Saal, der halb Fitnessstudio ist und halb altmodische Turnhalle, etwas bringt? Schließlich schwitzen hier mehrere ältere Damen unter der strengen Anleitung von Almut Zilchers Medizinerin, die sich aber stärker für die anwesenden jungen Männer interessiert – Leidenschaft schlägt Professionalität. Schweiß verbindet die beiden Welten: Später tauschen all die Liebenden reichlich Körperflüssigkeiten aus.
Dabei schien schon während der Pestepidemien im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit freiwillige Quarantäne die wirksamste Lösung. So schildert es Giovanni Boccaccios „Decamerone“, das erste bedeutende Prosawerk der europäischen Literatur, entstanden zwischen 1349 und 1353: Zehn Frauen und Männer fliehen zehn Tage vor der Pest in Florenz aufs Land und vertreiben sich die Zeit damit, sich jeden Tag Geschichten zu erzählen. Meist handeln sie von Liebe, Beziehungen, Seitensprüngen – und sind oft so heiter ironisch wie erotisch aufgeladen.
Aus diesen hundert Erzählungen hat Regisseur Kirill Serebrennikov jetzt zehn ausgewählt, um sie zeitgenössisch zu überschreiben. Ein Beispiel: Aus der Geschichte von Lidia, die sich vor den Augen ihres Mannes mit ihrem Liebhaber vergnügt, um ihn dann davon zu überzeugen, dass das, was er gesehen hat, nicht wahr ist, macht Serebrennikov eine Geschichte über virtuelle Realität: Lidia setzt ihrem Mann eine „virtuelle Brille“ auf, die angeblich Fantasien zeigt statt der Wirklichkeit – und hat vor seiner Nase freie Hand.
Diese Übersetzungen ins Heute funktionieren deshalb, weil Serebrennikov Boccaccios Geschichten im Kern unangetastet lässt – und Lust darauf hat, sie uns sinnlich zu erzählen. Dafür gliedert er die Auswahl nach Jahreszeiten, in denen zugleich Jugend, Reife, Alter, Tod stecken. Entsprechend wandelt sich die Stimmung: Handeln die Geschichten anfangs noch von Übermut und verschmitzt-verschwitzter Leidenschaft, werden sie zunehmend düster, dringlicher, tragischer.
Etwa wenn die große Diseuse Georgette Dee, die die Jahreszeiten mit Dichter-Versen besingt, an der Rampe beeindruckend genau vom Wolf erzählt, der im Traum des Ehemanns und seiner ihn betrügenden Frau für den Verrat steht. Oder wenn der Vater eines Mädchens dessen Liebhaber tötet und dessen Herz der Tochter in einem Kästchen präsentiert. In solchen Momenten entwickelt Serebrennikov einen starken erzählerischen Sog, magisch, dunkel, genau. Auch wegen seiner Schauspieler, allen voran Fillipp Avdeev, ein derart verwandlungsstarker, hypnotischer Typ mit nahezu perfekter deutscher Aussprache, ja mit Wortwitz, dass man ihn direkt fürs DT-Ensemble anwerben möchte. Gemeinsam mit der ebenfalls dunkel glühenden Regine Zimmermann hat er zwei der schönsten Szenen des Abends: Neben der Herz-Episode sind sie auch Königin und Knappe, die einander hinreißend umspielen. Da knistert die Luft!
In solchen Momenten braucht es all die anderen Theaterregister nicht, die Serebrennikov zieht: Hinten illustrieren altmeisterliche Landschaften die Jahreszeiten. Die drei großartigen Musiker an Synthesizer, Gitarre, Cello, Klarinette und Percussion pendeln entspannt zwischen Klassik-Strenge und Pop. Leidenschaft kulminiert in Songs, Tanznummern, Akrobatik. Selbst die Übertitel der russischen Sätze entwickeln auf der Bühne ein Eigenleben, jagen vorüber, pulsieren, setzen typographische Akzente.
So beeindruckend das im Einzelnen ist, fügt es sich nur bedingt zu einem zwingenden Ganzen – anders als in anderen Serebrennikov-Abenden, die als Gastspiele nach Berlin kamen. Anders auch als seine „Barbier von Sevilla“-Inszenierung 2016 an der Komischen Oper, wo seine multimediale Spielereien schön böse aufgingen. Dass das hier nicht ganz gelingt, hat vermutlich etwas mit der Entstehung dieses komplexen Abends zu tun, seiner ersten Schauspielinszenierung in Deutschland: In Moskau stand Serebrennikov lange unter Hausarrest – eine politische Machtdemonstration. 2019 wurde der Arrest überraschend aufgehoben, aber nun darf Serebrennikov wegen des laufenden Gerichtsverfahrens nicht reisen. Also plante das DT um, machte aus einer Inszenierung in Deutschland eine zweisprachige internationale Koproduktion mit Proben in Moskau und Endproben in Berlin, bei denen Serebrennikovs Assistenten für den letzten Schliff sorgten. Gut möglich, dass dabei etwas an Konzentration oder letzten Strichen verlorenging. Gerade zum Ende hin ufert der Abend nämlich merklich aus. Dass die fünf älteren Damen der Statisterie, die sich in der Rahmenhandlung sportlich abmühen, noch ihre Liebesgeschichten erzählen dürfen, gehört zu den nicht ganz so überzeugenden Momenten.
Dennoch: Wenn diese Inszenierung glüht, dann entfacht sie eine erzählerische Intensität und Poesie, wie man sie gar nicht so oft findet im deutschsprachigen Theater. Voll von Sinnlichkeit, Erotik, Witz. Aber auch voller berührender Momenten, die davon erzählen, wie wunderbar kompliziert die Liebe ist. Nicht nur in Zeiten von Epidemien.