Newsletter: Auffahrunfall mit Vorsatz

Newsletter: Auffahrunfall mit Vorsatz

Newsletter der nachtkritik.de-Redaktion vom 29. April 2021: Rassismus am Theater + #allesdichtmachen + Die Zürcher Theaterdebatte

Guten Morgen,

„Ich bin ein Rassist“ – dieses Zitat stammt nicht von mir, sondern von dem Dramatiker Necati Öziri. Mich hat das, als Öziris Rede 2017 auf nachtkritik.de erschien, erstaunt, dass jemand, der selbst rassistischen Erfahrungen ausgesetzt ist, so einen Satz sagt. Und fand die Begründung extrem einleuchtend: „Rassismus ist keine subjektive oder persönliche Haltung, die sein kann ‚Ich mag schwarze Menschen oder eben nicht‘, Rassismus ist keine Meinung von bestimmte Personen gegen bestimmte Menschengruppen, sondern Rassismus ist ein Netzwerk oder ein System, das einen Raum, eine Gesellschaft und einen Staat ordnet.“ Indem man die Regeln und Normen dieses Systems reproduziert, so Öziri, macht man sich zum Teil dieses Denkens.

An Öziris Rede musste ich in den vergangenen Tagen und Wochen oft denken im Zusammenhang mit den Ereignissen am Düsseldorfer Schauspielhaus. Schauspieler Ron Iyamu thematisierte in seiner Abschlussarbeit und in Interviews Rassismus-Erfahrungen, die er in seiner Arbeit am Theater machen musste. Es folgten offene Briefe und Zeitungs-Kommentare. Die komplexe Gemengelage hat Esther Slevogt recherchiert und rekonstruiert. Und stieß dabei auf etliche Denkfehler von Theaterleuten: „Wie außerdem soll eine ‚Schwarze Perspektive‘das ganze weiße Framing, das sich hier in der Ansprache ‚Sklave‘ so unglücklich verdichtet, überhaupt durchdringen und zu einer Produktion mehr beitragen können als bloß Dekoration zu sein?„, bringt sie das Dilemma der Vorfälle bei den Proben zu „Dantons Tod“ auf den Punkt. „Wenn es dem Schauspieler, der diese Perspektive einbringen soll, noch nicht einmal gelingt, mit seiner Not und seinem Befremden über Klischees, Rassismen und Verkürzungen bei der Entwicklung der Inszenierung zu denen durchzudringen, die diese Produktion verantworten. Auch das legt Iyamu in seiner Diplomarbeit sehr eindringlich dar.“ Ebenfalls aufschlussreich: Sophie Diesselhorst hat unter dem Artikel Reaktionen der Regisseure recherchiert, aus deren Proben Ron Iyamu die Beispiele für seine Diplomarbeit bezog.

Auch Elena Philipp und Susanne Burkhardt greifen das Thema im aktuellen Theaterpodcast auf. Sie sprechen mit Guy Dermosessian, dem Diversitätsbeauftragten am Düsseldorfer Schauspielhaus, und mit Florian Fiedler, dem Oberhausener Intendanten, der versucht hat, eine Antirassismusklausel in den Verträgen einzuführen. Hier wird deutlich, was auch Öziri schildert: Wie sehr Rassismus ein strukturelles Problem ist, jenseits aller Einzelfälle.

Was hilft? Sich bewusst zu machen, wie stark unser Denken und unsere Strukturen von einer Norm geprägt sind, die im Wesentlichen weiß, oft auch männlich, nicht-behindert, Mittelklasse ist. Und dass man im Blick behält, ob es einem gelingt, daraus angemessene Verhaltensweisen abzuleiten. Ja, das ist anstrengend, sehr sogar. Aber Minderheiten müssen ähnliche Anstrengungen jeden Tag unternehmen, um in einer Gesellschaft leben zu können, die sie zu wenig mitdenkt und respektiert.

Noch ein Erregungsthema: #allesdichtmachen. Sie wissen ja: Die 52 Schauspieler:innen, die sich vor einer Woche in Corona-Satire versuchten und entsetzlich scheiterten. Die Aktion ist „ein Auffahrunfall mit Vorsatz“, findet Janis El-Bira in seiner Kolumne „Straßentheater„: „Das Unheimliche an #allesdichtmachen liegt in der Verselbständigung der in die Welt entlassenen Zeichen, der Gleichzeitigkeit von Bedeutungsüberschuss und Unterbestimmtheit, vor dem selbst einige der Teilnehmer:innen mit Schaudern zurückbleiben.“

Ein Aufreger ganz anderer Art ist die Debatte um die Pfauenbühne, das Stammhaus des Zürcher Schauspielhauses. Sie muss dringend saniert werden. Vier Entwürfe kursieren; einer schlägt den Totalabriss des Zuschauerraums und einen Neubau vor. Wer den Saal kennt, weiß, warum: Von vielen Randplätzen sieht man so gut wie nichts und das Foyer ist so unwirtlich wie ein U-Bahnhof-Zwischengeschoss. Die Debatte um Renovierung und möglichen Neubau hat Andreas Klaeui zusammengefasst. Was Bewohner:innen anderer Städte schon deshalb interessieren sollte, weil es überall Sanierungsstau gibt und sich die Frage öfter stellen wird, ob Geschichte und Aura wichtiger sind als gute Sicht. Nachdenklich stimmt, dass sich Berlin bei der Staatsopernsanierung – trotz eines radikalen Siegers des Architekturwettbewerbs, der einen neuen Saal vorsah – für den Erhalt der historisierenden Paulick-Architektur aus den 1950ern entschied. Jetzt gibt es immer noch viele sichteingeschränkte Plätze, keine Beinfreiheit und zu wenig Toiletten. Ist der Plüsch das wert?

Aber das sind natürlich Luxusprobleme angesichts der Tatsache, dass sich – nach einer Zeit der relativen Ruhe – wieder erste Schließungsdebatten ankündigen. In diesem Fall mehren sich die Hinweise, dass am Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz-Zittau Musiktheater und Ballett eingestampft werden sollenSind das die ersten Vorboten einer Zeit nach Corona? Sparen, bis es quietscht? Allerdings gibt’s auch Gegensignale, zum Beispiel aus Bremen: Dort wurde gerade die Mindestgage für alle NV-Bühne Beschäftigten von 2000 auf 3000 Euro erhöht.

Freudiges gibt’s auch aus Heidelberg zu berichten: Dort beginnt morgen der Heidelberger Stückemarkt – natürlich digital. Dafür kann man nun die jährliche Uraufführung – in diesem Jahr Teresa Doplers „Das weiße Dorf“ – und etliche der eingeladenen Inszenierungen, die Autor:innen-Lesungen und Diskussionen von der Couch aus verfolgen. Alle Hintergründe, Termine und Links gibt’s auf unserer in Kooperation mit dem Theater und Orchester Heidelberg geschaffenen Festivalseite.

Und noch etwas zum Vorfreuen: Nächste Woche erscheint der Band „Theater und Macht. Beobachtungen am Übergang“, eine Kooperation von nachtkritik.de und der Heinrich Böll Stiftung, herausgegeben von Sophie Diesselhorst, Christiane Hütter, Elena Philipp und Christian Römer. Mit zahlreichen Debattentexten zur Behauptungsmaschine Theater, zu Machtmissbrauch und Mitbestimmungsmodellen. Genug Lesestoff für die nächsten Wochen, in denen es aller Voraussicht nach in Deutschland auch weiterhin nur virtuelles Theater geben wird. (Die Schweiz spielt schon wieder live, wie unsere Nachtkritiken beweisenÖsterreich will ab 19. Mai nachziehen.)

Dafür groovt sich jetzt endlich der Frühling ein!

Eine blütenreiche, aber heuschnupfenfreie Woche wünscht
Georg Kasch

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