Kolumne: Im Chaos menschlich bleiben
Wladimir Putin hält den Westen für verweichlicht. Dabei ist diese vermeintliche Schwäche eine unserer größten Errungenschaften. Wir sollten sie uns gerade in Zeiten von Krieg und Leid bewahren.
Es herrscht Krieg in Europa, Tag sechs. Menschen fliehen, Menschen sterben. Bomben fallen auf Städte, in denen Menschen leben, die mir lieb sind. Es ist unerträglich. Und warum? Weil ein toxischer Mann mit gekränktem Ego seinem Cäsarenwahn erliegt und meint, der Westen werde sich ihm schon nicht in den Weg stellen beim Versuch, Russland wieder groß zu machen.
Denn der Westen gilt als „verweichlicht“. Übrigens nicht nur bei Wladmir Putin, sondern auch bei vielen Rechten in Europa und den USA: trans Rechte, Pridefahnen, Frauen-Quoten, „Gendergaga“ – alles dient ihnen als Indiz für den Niedergang. Als die Bundeswehr vor wenigen Tagen feststellen musste, dass sie „blank dasteht“, wiederholte sich das Narrativ einer „verweichlichten“ „Generation Schneeflocke“ bei Vertreter:innen der AfD. „Schwäche“ und „Verweiblichung“ (ein toxischer Begriff, der die Hälfte der Menschheit abwertet) gehören übrigens auch zu den gängigen antisemitischen Narrativen – die Wolodymyr Selenskyj, lange unterschätzter Präsident der Ukraine, gerade jeden Tag beeindruckend widerlegt.
Putin selbst hat die Ukraine als „Anti-Russland“ beschrieben. Und er hat recht, auch in Bezug auf queere Menschen. Zwar ist das Land kein Musterstaat, überhaupt nicht – die Akzeptanz in der Bevölkerung für queere Menschen ist relativ niedrig, es gibt Gewalt gegen LGBTIQ, keine eingetragene Partnerschaften oder eine Ehe für alle. Aber Homosexualität ist seit 1991 straffrei, seit 2015 gibt es ein Antidiskriminierungsgesetz, das auch die sexuelle Orientierung umfasst. Außerdem ist der Staat bereit, queere Veranstaltungen wie die Pride-Parade durch die Polizei schützen zu lassen. Deshalb sind in den vergangenen Jahren auch viele queere Russ:innen in die Ukraine gezogen. Noch im November berichtete das ZEIT Magazin vom Club ∄, dem Kiewer Pendant zum Berliner Berghain, ein Schutzraum gerade auch für queere Menschen.
Was der Ukraine und seinen queeren Menschen blüht, sollte sie von Putin erobert werden, zeigt ein Blick auf die 2014 völkerrechtswidrig annektierten Regionen Donbas, Lohansk und Krim: Folter und Menschenrechtsverletzungen sind dokumentiert, ein schwuler Club und ein LGBTIQ-freundliches Kulturzentrum wurden zerstört; jetzt gilt dort die restriktive russische Gesetzgebung.
Vielleicht wird am Dnepr nicht unsere Freiheit verteidigt (das stimmte schon für den Hindukusch nur bedingt). Aber doch unsere Werte. Dass bei den #standwithukraine-Demonstrationen auch viele Regenbogenfahnen flatterten, hat seinen Grund. Es sind aber nicht wir, die Europäer, die diese Werte verteidigen. Sondern Ukrainer:innen. Unter den Kämpfenden sind übrigens auch Frauen und LGBTIQ.
Zugleich gehören queere Menschen in einem Krieg zu den besonders Gefährdeten. Trans Menschen kommen nicht an ihre dringend benötigten Hormone, trans Frauen, deren Geschlechtseintrag noch nicht geändert wurde, dürfen das Land nicht verlassen und müssen an die Front.
Ich erwähne das nicht, weil ich queere Menschen für wichtiger halten würde als andere. Sondern weil das alles zu den Schattierungen einer komplizierten Gegenwart gehört. Krieg besitzt immer eine Neigung zur Eindeutigkeit, zu einem Schwarzweiß, dem man sich schwer entziehen kann. Dabei ist die Lage gewohnt komplex. Man kann Selenskyjs Mut bewundern, sich von seinen Ansprachen und Videos berühren lassen – und zugleich Heldenverehrung und Durchhalteprosa problematisch finden. Man kann sich über die Hilfsbereitschaft und die Willkommenskultur an der Grenze der Ukraine zur Slowakei, zu Polen und Ungarn freuen – und zugleich entsetzt und wütend sein darüber, dass People of Color zunächst nicht einreisen durften.
Man kann die vielen Hilfs-, Transport- und Unterkunftsangebote unterstützen und in den sozialen Medien teilen – und dennoch kritisieren, das so wenige von ihnen explizit Menschen mit Behinderungen mitdenken. Man kann sich um die vulnerablen Minderheiten im Land sorgen – und mit allen auf der Flucht mitfiebern, den Alten, Frauen, Kindern, den Nicht-Ukrainern. Man kann um jedes Opfer trauern, die Toten und Verwundeten in diesem verzweifelten Verteidigungskrieg – und zugleich um jeden toten russischen Soldaten, oft blutjunges Kanonenfutter. Man kann sich über den Schulterschluss der westlichen Welt freuen – und zugleich bedauern, wie lange der kulturelle Dialog jetzt auf lange Zeit verstummen wird.
Das sind eben keine „Schneeflocken“-Themen, die jetzt, im Krieg, zu schweigen haben. Sondern der Versuch, auch in chaotischen Zeiten menschlich zu bleiben. Auf den und die Einzelne zu schauen. Offen zu sein, ansprechbar, berührbar. Auch in Krisenzeiten muss es uns gelingen, auf jene zu achten, die nicht oder nur bedingt gehört werden. Den Sieg, wegen des Kriegs, den er über Teile Europas bringt, so zu werden wie er, sollten wir Putin nicht gönnen.