Opernkritik: Im Würgegriff des Todes

Opernkritik: Im Würgegriff des Todes

Die Performerin Marina Abramovi verneigt sich vor der radikalsten Sängerin aller Zeiten: „7 Deaths of Maria Callas“ in der Deutschen Oper

Was ist Maria Callas im Moment ihres Todes durch den Kopf gegangen? Vielleicht waren es die Arien all ihrer großen Rollen, deren Bühnentode sie so unzählige Male gestorben ist: Norma, Tosca, Violetta Valery… Während Callas also regungslos in ihrem Bett liegt auf der sonst leeren Bühne, tritt eine Sängerin nach der nächsten im gleichen Pflegerinnen-Kostüm auf und singt. Dazwischen ballen und stauen sich die projizierten Wolkenkonstellationen, halb düstere Vorahnung, halb barockes Bühnenbild und Marina Abramovics Stimme spricht vom Band weihevoll überleitende Worte hin zur nächsten Arie.

„7 Deaths of Maria Callas“ hat sie ihren Abend genannt, der 2020 an der Bayerischen Staatsoper in München herauskam und jetzt für drei Vorstellungen in Berlin Station macht. Er zelebriert das Sterben der Callas mit sieben ihrer berühmtesten Arien und wirkt wie eine Mischung aus Pathos-Bebilderung und Trauerarbeit.

In erster Linie aber ist er ein Gipfeltreffen: Die größte, weil radikalste Sängerin aller Zeiten, die es wie keine andere vermochte, seelische Konflikte hör- und spürbar zu machen, trifft auf die größte Performerin aller Zeiten. Niemand zuvor und vermutlich auch niemand nach ihr hat den eigenen Körper so entschieden zum Objekt von Kunst gemacht wie Marina Abramovic. Er lag blutend auf Eisblöcken, war geladenen Revolvern und gespannten Pfeilen ausgesetzt. Zuletzt – 2010 war das – saß sie drei Monate lang jeden Tag den Besuchern des Museum of Modern Art in New York gegenüber. Titel: „The Artist Is Present“ – der Künstler ist anwesend.

Dafür, dass sich hier zwei Künstlerinnen der Extreme treffen und zumindest eine davon leibhaftig anwesend ist, passiert erst einmal nicht viel. Marina Abramovic liegt im Bett, Sängerinnen der Deutschen Oper treten auf, singen ihre Arie, verschwinden. Dazu flimmern Kinobilder über die Leinwand hinter der Bühnenfläche: Wenn Carmen von der Liebe singt, die wie ein Vogel ist, lässt sich Abramovic von Hollywood-Star Willem Dafoe mit dem Lasso einfangen. Wenn Norma ihr „Casta Diva“-Gebet anstimmt, schreiten Abramovic und Dafoe – sie im Anzug, er im Goldkleid – ins Feuer. Wenn Lucia di Lammermoor ihre Wahnsinnsarie auslotet, zerdeppert Abramovic im edlen Palast-Setting Spiegel. Immer stirbt sie am Ende, voll Pathos, in Großaufnahme.

Das steht im denkbar schärfsten Kontrast zu den Sängerinnen, die sich kaum bewegen dürfen und alle wie gehemmt klingen. Manche nehmen sich etwas mehr Freiheit, gewinnen ihren kurzen Momenten vokale Präsenz ab: Antonia Ahyoung Kim verleiht ihrer Cio-Cio-San ein warmes Timbre, Irene Roberts ihrer Carmen funkelnde Glut, Adela Zaharia dem Lucia-Wahnsinn prachtvolles Strahlen. Nur klingt das alles abgezirkelt, ausgebremst. Ob’s an Yoel Gamzou liegt, der am Pult des Deutsche-Oper-Orchesters nicht eben Gas gibt? Oder am Konzept, weil Musik und Filmbilder zusammenpassen müssen?

So wirken all die großen Arien wie ein Wunschkonzert ohne jede Dringlichkeit – und damit wie das Gegenteil von dem, was Callas mit ihrem Gesang konnte und wollte. Zum Glück folgt noch ein zweiter Teil, in der die Musik von Marko Nikodijevic dominiert: Hier wabert, sirrt, braust und stöhnt es zuweilen, als gerate die Welt aus den Fugen. Dazu singt der Damenchor etwas seifige Vokalisen, die manchmal an Motive der Arien erinnern. Die Bühne zeigt jetzt das Pariser Sterbezimmer der Callas in all seiner klassizistischen Pracht, mit Gemälden, Spiegeln, Blumen. Schon das ist in seiner Detailfreude beeindruckend. Während Abramovic vom Band Gedanken und Beschreibungen spricht, setzt sie sie auf der Bühne um: steht auf, betrachtet Fotos, zählt die Schritte bis zum Fenster, geht schließlich ab. Lebt die Callas noch?

Eher ist es ihr finaler Aufbruch. Denn jetzt kommen die Sängerinnen noch einmal in ihren Pflegerinnen-Kleidern, ziehen die Bettwäsche ab, desinfizieren den Raum, hängen Möbel und Spiegel mit schwarzen Schleiern ab. Der Mensch Callas ist verschwunden. Ihre Kunst bleibt. Das ist das – vielleicht etwas berechnende, aber doch enorm beeindruckende – Finale dieses Abends (und wer noch plant hinzu gehen, sollte nicht weiterlesen): Am Ende steht Abramovic im goldschimmernden Kleid auf der Bühne, während vom Plattenspieler knackend Callas‘ „Casta Diva“ erklingt, behutsam vom Live-Orchester begleitet, was dem Ganzen eine enorme Dreidimensionalität verleiht. Während Abramovic also Callas in dem Moment verkörpert, in dem sie die Norma singt, bricht die unermessliche Kunst der Sängerin ein wie eine Offenbarung. Plötzlich wirkt es, als sei Callas anwesend.

Dieses fulminante Finale macht nicht vergessen, dass viele der zuvor heraufbeschworenen Bilder reiner Kitsch sind – gerade Nabil Elderkins Kurzfilme baden in Klischees. Dennoch zeigt es, welch untrügliches Gespür Abramovic für große Momente besitzt. Der kräftige, teils stehende Applaus verneigte sich auch vor dem Lebenswerk einer Frau, die die Kunst revolutioniert hat.