Kolumne: Unter Akten verborgen

Kolumne: Unter Akten verborgen

Wohin kann man sich wenden, wenn man queere Lebensgeschichten vor 1900 sucht? Viele Protagonist:innen wurden hingerichtet; von ihren Spuren künden trockene Prozessakten. Man müsste in die Leerstellen künstlerisch leuchten. Kann das Theater das Licht dafür aufbringen?

Gab es einst, sagen wir: vor 1900, queeres Leben? Gewiss! Wir wissen nur nicht genau, wie es aussah. Sind es platonische oder auch körperliche Liebe und Zuneigung, die durch die Briefe im Zeitalter der Empfindsamkeit pulsen? Kuscheln die Männer auf den Fotos, die zwischen 1850 und 1950 entstanden und jetzt im Bildband „Loving“ veröffentlicht wurden, freundschaftlich, ironisch oder erotisch miteinander? Hatte Christopher Marlowe einen schwulen oder vor allem einen unfähigen König im Kopf, als er „Edward II.“ schrieb?

Wir wissen es nicht. Der Grund liegt auf der Hand. Queeres Leben (avant la lettre – selbst die Begrifflichkeiten und Konzepte waren damals völlig andere) galt als Tabu, war in diversen Gesetzbüchern mit drastischen Strafen belegt. Jedes Indiz queerer Existenz konnte einen das Leben kosten. Kein Wunder, dass es auch in der Dramatik kaum Spuren hinterlassen hat. Man kann die Beziehung zwischen Edward und Gaveston als Liebesgeschichte auffassen. Aber Günstlinge und Günstlingswirtschaft waren nicht per se sexuell konnotiert. Shakespeares Komödien – „Was ihr wollt“, „Wie es euch gefällt“, „Ein Sommernachtstraum“ – lassen sich heute wunderbar queer lesen, überschreiben (wie bei Ewald Palmetshofer) und inszenieren (wie in Pinar Karabuluts Theaterserie). Sie funktionierten in den Jahrhunderten zuvor aber auch hervorragend in heteronormativen Koordinatensystemen.

Was also tun mit der queeren Geschichte, zumal auf der Bühne? Ein Problem ist, dass die Quellen, die es gibt, nie von Leben und Lieben, sondern in überwältigender Mehrheit von Leid und Tod erzählen. Wie im Fall von Catharina Linck aus Halle. Sie war die letzte weiblich gelesene Person, die in Europa wegen „Unzucht mit einem Weybe“ hingerichtet wurde. Schon als Fünfzehnjähre zog sie Männerkleider an und nannte sich Anastasius Rosenstengel, arbeitete später als Prediger und Prophet, verdingte sich als Soldat und Handwerker und heiratete 1717 eine Frau. Verraten wurde Link/Rosenstengel von der Schwiegermutter. 1721 wurde sie zum Tode verurteilt und hingerichtet.

War Link/Rosenstengel lesbisch? Bi? Trans? Nonbinär? Angela Steidele schildert in ihrer so spannenden wie fundierten Biografie „In Männerkleidern“ (Insel 2021), wie sie mit diesen viel später etablierten Kategorien nicht weiterkommt. Zu dem, wie sich Link/Rosenstengel selbst empfand, geben die preußischen Gerichtsakten wenig her. Um dieses Leben zu skizzieren, ist Steidele auf weitere Forschungen zur damaligen Zeit angewiesen – und immer wieder auf Spekulationen.

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