Opernkritik: Zu schön, um wahr zu sein
Regisseur Vasily Barkhatov einen durchaus interessanten Zugriff auf Verdis Simon Boccanegra. Doch zu viele Unklarheiten lenken vom Geschehen und den Sängern ab.
Macht hat ihre eigenen Gesetze. Während der Ouvertüre sieht man, wie Jacopo Fiesco das Amt des Dogen übernimmt, die Amtskette erhält, die Fahne küsst und mit seiner Familie den Regierungssitz von Genua bezieht. Am Ende des Prologs wiederholt sich dieses Staatstheater mit Simon Boccanegra, am Schluss der Oper mit Gabriele Adorno.
Die Institutionen bleiben stabil, nur die Menschen werden in der Zwischenzeit zerrieben: Regisseur Vasily Barkhatov spielt diese These an der Deutschen Oper Berlin an Giuseppe Verdis „Simon Boccanegra“ durch. Auch optisch erinnert das an Serien wie „The Crown“: Zinovy Margolin hat auf der Drehbühne einen doppelten Machtraum aus Dogenbüro und Ratssaal geschaffen; auf der Galerie drüber drängt sich das launische Volk mit politischen Parolen.
Hier erzählt Barkhatov die Geschichte vom Politiker, der durch seine Leidenschaften menschlich, aber auch angreifbar wird. Boccanegra sucht manisch nach seiner verschollenen Tochter, die Enkelin jenes Fiesco, der von ihm zu Beginn der Oper aus dem Dogenamt verdrängt wird und danach im Gewand eines Priesters mit an den Schicksalsfäden spinnt. Paolo Albiani ist ein weiterer Erniedrigter und Beleidigter, der einst Simone den Weg zur Macht ebnete und nun seinen Preis fordert.
Dass die Erregungsdramaturgie – alle paar Minuten gibt’s eine neue Überraschung, einen Umschwung, eine Zuspitzung – an Verdis „Il trovatore“ erinnert, hat einen Grund: Die Vorlage stammt vom selben romantischen spanischen Autor Antonio García Gutíerrez. Allerdings ist „Simon Boccanegra“ noch verworrener, abstruser, voraussetzungsreicher, und wäre nicht die Musik, man würde vermutlich die Finger von dieser Schicksal-Liebe-Rache-Mischung mit ihren aufgeregten Höhepunkt- und Umschlagdramaturgie lassen.
Die Partitur aber hat es in sich und dürfte der Grund sein, warum „Simon Boccanegra“ nun schon zum 7. Mal seit der Erstaufführung 1930 in der Deutschen Oper inszeniert wird. Verdi unterzog sein Werk, 1857 entstanden und bei der Uraufführung in Venedig gefloppt, 1881 zusammen mit dem „Otello“- und „Falstaff“-Librettisten Arrigo Boito einer tiefgreifenderen Überarbeitung. Die Dramaturgie ist immer noch stark gewürzt, aber die Partitur wirkt nun stärker durchkomponiert. Jader Bignamini kümmert sich umsichtig um diesen vielschichtigen Orchesterklang, der zuweilen sinfonisch aufblüht, ohne die Sänger zu übertönen. In die Extreme mag Bignamini nicht gehen. Aber herrlich schillert bei ihm der impressionistische Sonnenaufgang des ersten Akts, berührend gelingt die große Einigungsszene im Rat, fahl grundiert klingt es oft aus dem Graben, dann wieder farbsatt. Und dem Chor, einstudiert von Jeremy Bines, ringt Bignamini auf der Bühne markige, hinter der Szene berührend gemischte Töne ab.
So genau wie das Dirigat wirkt auch die Inszenierung zunächst, realistisch grundiert, prachtvoll ausgestattet mit all den Gesellschaftskostümen von Olga Shaishmelashvili, Paradeuniformen, Kardinalsroben, Abendkleider, während das Volk in farblosen Jacken und Kitteln ankommt.
Barkhatov besitzt ein Gespür für die Beziehungsgeflechte und Pathosmomente, wie er schon bei der Urauffühung von Aribert Reimanns Psychothriller „L’Invisible“ 2017 hier am Haus bewiesen hat. Effektvoll geraten die Wiederbegegnung von Boccanegra und seiner Tochter Maria (die nun Amelia heißt) in ihrem Internat, ergreifend Boccanegras an Petrarca geschulte Einigungsrede im Senat (da fassen sich am Ende alle bei den Händen). Es ist zu schön, um wahr zu sein.
Vermutlich deshalb misstraut Barkhatov diesen Zwischen-Happy-Ends – und behauptet, dass Amelia gar nicht Boccanegras Tochter ist. Dafür legt er eine Art Traumwolke über die Szenen des Erkennens und der Versöhnung, spult danach mit einem Lichteffekt zurück, um in der Dramaturgie weiterzugehen, als wäre das alles nur eine Vision Boccanegras gewesen (schließlich schlägt danach die Stimmung gleich wieder ins Düstere um).
Gerade weil hier Boccanegras – mögliche – Perspektive absolut gesetzt wird, kommen die Sichtweisen und Interessen der anderen allerdings zu kurz. Am Ende gibt es kaum Täter, wirken alle wie die Verfügungsmasse des Schicksals. Außerdem bleiben zu viele Fragen offen: Wenn Amelia nicht Maria ist – was treibt sie dann zu Boccanegra? Sind sie Geliebte? Und was bedeutet das für ihre Beziehung zu Gabriele? Schade ist das auch deshalb, weil diese Unklarheiten vom Geschehen ablenken, um das sich Barkhatov doch so bemüht, etwa mit Zeitungsschlagzeilen in den Umbaupausen zwischen den Akten, die die Geschichte und die Beziehungen der Figuren etwas deutlicher machen.
Aber zuweilen auch vom Gesang. Dabei hat die Deutsche Oper mit George Petean einen kraftvollen Boccanegra engagiert, souverän in der Erscheinung, in den Details zupackend, fast grob. Maria Motolygina als Maria alias Amelia besitzt eine verschwenderische Mittellage, mit der sie das Haus mühelos füllt. Auch wenn ihr Sopran in der Höhe nicht immer völlig präsent wirkt, beeindruckt sie mit warmem Timbre und Leidenschaft. Liebe und Macht geht Attilio Glaser als Gabriele Adorno mit demselben Furor an. Entsprechend entschlossen klingt sein Tenor, markig, der auf seinen baldigen Lohengrin-Einsatz am Haus hindeutet, auch wenn man sich einen Lover etwas sensibler denken würde.
Ihm ebenbürtig wirkt Liang Li als Fiesco, eigentlich die interessanteste Figur der Oper, die allerdings im Gewimmel der Inszenierung zuweilen untergeht. Vokal zeichnet Li einen Mann mit Mission, klangschön und charakterstark, ein wahrer Strippenzieher. Mit Paolo Albiani hat Verdi bereits eine Jago-Figur skizziert, die bei Michael Bachtadze aber eher ein leidenschaftsarmer Funktionär ist denn ein verletzter Intrigant. Warm strömt sein Bass, angenehm. Was ihn antreibt, zum Mörder werden lässt, erschließt sich aus der Bühnenhandlung allerdings kaum.
Vermutlich ist das von Barkhatov auch so gewollt – wenn das Machtgefüge an allem schuld ist, muss es keine Täter mehr geben. Am Ende, da ist Boccanegra vergiftet, treten Adorno und Amelia die Regierung an. Es wird ihnen nicht gut bekommen.